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Wohlverstandenes Interesse der Klient*innen wahren / sich im Spannungsfeld zwischen Verantwortungsübernahme für und Eigenverantwortung der Klient*innen bewegen
- KlientInnen schaden aus sozialarbeiterischer Sicht sich selbst und/oder ihrem Umfeld und/oder es besteht die Gefahr, gesetzliche Vorgaben zu verletzen.
- KlientInnen sind sich den schädlichen Folgen ihres Verhaltens nicht bzw. zu wenig bewusst oder sie verfügen nicht über die Ressourcen, einen Schaden abschätzen bzw. erkennen zu können.
- SozialarbeiterInnen übernehmen einen Teil der Verantwortung für die KlientInnen, im günstigen Fall mit deren Einverständnis, im Notfall aber auch gegen deren Willen.
- Die Sozialarbeiterin beschreibt mögliche Konsequenzen dieses Verhaltens und gibt dem Klienten die Möglichkeit, sich aktiv zu entscheiden.
- SozialarbeiterInnen sehen sich in einem inneren Konflikt zwischen Verantwortungsübernahme für die Klientin/den Klienten und der Wahrung deren/dessen Eigenverantwortung.
Kontext
In ihrer Praxisphase bei der Bewährungshilfe (Amt für Justizvollzug) eines Schweizer Kantons führte die fallbringende PSA in Ausbildung (PSA) zwischen November 2022 und Mai 2023 mit verschiedenen KlientInnen, unter anderem mit Hrn. G., Bewährungshilfegespräche. Der gesetzliche Auftrag der Bewährungshilfe ist es, die betreuten Personen vor Rückfälligkeit zu bewahren und sozial zu integrieren. Die Konfrontation der Klientinnen und Klienten mit ihren Straftaten und die Erarbeitung von neuen Verhaltensmöglichkeiten, um weitere Delikte zu verhindern, ist ein zentraler Teil der Tätigkeit der PSA, die bei der Bewährungshilfe angestellt sind.
Herr G. war bis Ende September 2022 aufgrund eines Freiheitsberaubungs-Delikts neun Monate in Haft. Nach seiner bedingten Entlassung hat er vom Straf- und Massnahmenvollzug ein Jahr Probezeit bzw. die Anordnung der Inanspruchnahme von Bewährungshilfe erhalten. Die Gespräche zwischen der PSA und dem Klienten fanden in einer regelmässigen Frequenz von zwei Wochen statt.
Ausgangslage
Herr G. stammt aus Sri Lanka, ist 44 Jahre alt und lebt seit 25 Jahren in der Schweiz. Er besitzt die Aufenthaltsbewilligung C. Er ist aus seinem Heimatland geflüchtet, war in jungen Erwachsenenjahren Mitglied der Tamil Tigers[1]. Informationen über die Kindheit von Hrn. G. sind der PSA nicht bekannt. Er hat eine 12-jährige Tochter in der Schweiz, welche mit der Mutter lebt. Hr. G. ist mit dieser Frau tamilisch verheiratet. Hr. G. ist Analphabet und spricht gebrochen Deutsch. Er hat in seiner Zeit in der Schweiz kochen gelernt, bereits in frühen Jahren ein Restaurant geführt und durch eine frühere Beziehung mit einer Schweizerin, deren Vater ein Gipsergeschäft hatte, das Gipser-Handwerk erlernt. Herr G. ist seit vielen Jahren selbstständig erwerbend. Er ist breit begabt, was Kochen und Handwerkerarbeiten anbelangt. Er ist sehr hilfsbereit und verfügt über weitere Ressourcen wie eine positive Denkweise, Ideenreichtum, stets hohem Engagement, Durchhaltewillen, Durchsetzungsvermögen und dem Pflegen eines breiten privaten und geschäftlichen Netzwerkes.
Bereits das Erstgespräch im Oktober 2022, das die Praxisausbildende der PSA leitet, zeigt, dass die Situation von Hrn. G. komplex ist. Nebst dem Analphabetismus, der eine Unselbstständigkeit in administrativen Belangen mit sich bringt, verfügt er über zahlreiche Immobilien (Miete/Eigentum) und Restaurant-/Take-away-Betriebe an drei Standorten. Er hat um die 280’000 CHF Schulden (zum Teil von privaten Geldgebern, zum Teil Steuer- oder Krankenkassenschulden). Mit der Inhaftierung von Hrn. G. mussten die Restaurants-/Take-aways grösstenteils schliessen oder konnten nur noch Getränke anbieten. Die meisten Betriebe, welche sich im Eigentum von Hrn. G. befinden, sind aufgrund der hohen Schulden auf den Namen seiner Cousine, die bei ihm arbeitet und mit ihrem 16-jährigen Sohn in einer seiner Liegenschaften wohnt, überschrieben. Herr G. ist eine «One-Man-Show.» Er führt ein Handwerkergeschäft, ein Restaurant, ein Take-away und einen Kiosk in Eigenregie. Daneben vermietet er rund 18 B&B-Zimmer und möchte ein zweites Take-away und ein Spielcasino errichten. Es ist für Hrn. G. keine Option, einen Privatkonkurs in die Wege zu leiten, sich zu einem Fixlohn anstellen zu lassen und auf «grüner Wiese» neu anzufangen. Gleichzeitig bekennt er sich dazu, im Gefängnis erstmals zur Ruhe gekommen zu sein. Das (Lebens-)Ziel von Hrn. G. ist es, seine Betriebe wieder zum Laufen zu bringen und seine Schulden zurückzuzahlen. Sollte dies nicht funktionieren, will er nach eigenen Aussagen lieber tot sein. Er vermittelt meist den ungebrochenen Optimismus, dass er – mit etwas Zeit – wieder erfolgreich wirtschaften kann. Herr G. hat vor einiger Zeit bereits einen Anlauf zur begleiteten Schuldensanierung vorgenommen, diese aber aus der PSA nicht bekannten Gründen abgebrochen. Eine Hypothese der PSA ist es, dass es nicht möglich war, monatlich und über die festgelegte Zeit einen regelmässigen Einkommensteil dafür sicherzustellen. Herr G. will einen zweiten Anlauf nehmen, sobald er finanziell auf stabilen Füssen steht mit der Wiederbelebung der Betriebe, welche nach dem Gefängnisaufenthalt erzwungenermassen schliessen mussten. Gleichzeitig hat Herr G. das Problem, nicht alles selbst bewältigen zu können. Trotz der Tatsache, dass Herr G. rund 20 Stunden täglich arbeitet, reicht seine Zeit nicht aus, um alle Betriebe, Arbeiten und Einnahmequellen erfolgreich zu bewirtschaften. Er sucht mit seinen Mitteln und Rahmenbedingungen ununterbrochen nach Wegen und Lösungen, um die Situation zu verbessern. Es macht jedoch den Anschein, dass die Probleme dadurch eher zu- als abnehmen. Dies zum Beispiel, indem er für den Betrieb seines Take-aways, das er im Mai 2023 wiedereröffnet, einen ehemaligen, ungelernten Gefängniskollegen einstellt. Herr G. spricht zwischen März und Mai 2023 davon, gegen Ende Jahr einige Betriebe verkaufen zu wollen, um etwas zur Ruhe zu kommen und sich nur noch auf einen Standort konzentrieren zu können. Dies aber erst, nachdem die Betriebe wieder gut laufen.
Zu seiner Tochter hat er ein stabiles, aber eher distanziertes Verhältnis. Dies durch die Tatsache, dass er sie selten sieht aufgrund seiner hohen Arbeitslast und zweitens, weil es den Anschein macht, dass Herr G. nie gelernt hat, einen Blick für sich selbst zu entwickeln, seine eigenen Bedürfnisse und sich selbst wahrzunehmen und so Gefühle/Emotionen nicht weitergeben kann. Auf seine Lebensziele und Träume angesprochen antwortet Herr G. lediglich: «Meine Geschäfte zum Erfolg zu bringen».
In einem Gespräch konnte die PSA gefühlsmässig etwas tiefer zu ihm hindurchdringen, als sie seine Beziehung zur Tochter angesprochen und ihm empfohlen hat, sich etwas Zeit für sie zu nehmen, da diese Zeit nicht zurückkommen werde. Es ist das einzige Mal, bei dem die PSA spürt, dass es tief im Innern des Klienten etwas auslöst.
Herr G. scheint gute Werte zu haben. So ist es ihm wichtig, dass seine Tochter schulisch auf gutem Weg ist und auch der Sohn seiner Cousine eine gute Ausbildung macht, um «nicht in dieselben Probleme zu laufen» wie er.
Herr G. äussert in seiner Karte an die PSA zu deren Praktikumsende, dass er in seiner Zeit im Gefängnis viel nachgedacht habe. Zitat: «Danke für die 9 Monate im Gefängnis. Ich habe selbst viel daraus gelernt. Ich möchte möglichst meinen Frieden haben. Ich habe versucht, meine Probleme zu lösen. Mein einziges Problem: Ich kann weder lesen noch schreiben. Deshalb habe ich immer verloren. Ich bin schuldig für dieses Land. Trotzdem kann ich zum Besseren hochkämpfen, um meine Ziele zu erreichen.» Herr G. ist bestrebt, seine Probleme zu lösen und er will dies selbst tun. Er belastet ihn, dass er Kosten verursacht und wehrt sich, weitere Leistungen (nebst dem Gefängnisaufenthalt und den Bewährungshilfegesprächen) anzunehmen, so z.B. die Finanzierung eines Alphabetisierungskurses, den die Bewährungshilfe ihm anbietet. Auch will er keinesfalls von der Sozialhilfe abhängig sein.
Zunehmend machen sich bei Hrn. G. gesundheitliche Beschwerden bemerkbar. Herr G. klagt in den Gesprächen vermehrt über Knie- und Rückenprobleme. Die Situation mit den Beschwerden ist zusätzlich als kritisch zu beurteilen, weil Herr G. seit Januar 2017 aufgrund ominöser (und bis zum Mai 2023 nicht vollständig aufgedeckter) Umstände keine Krankenversicherung mehr hat. Die PSA setzt sich zum Ziel, ungeachtet der Aufarbeitung der Sechsjahres-Lücke, schnellstmöglich eine neue Krankenversicherung abzuschliessen, um das Risiko einer Kostenexplosion im Falle einer Erkrankung oder eines Unfalls abzufedern.
Im Oktober/November 2022 hat Herr G. bei all seinen Themen den Optimismus geäussert, dass es «gut kommt». Im Frühjahr 2023 belasten ihn seine Sorgen jedoch spürbar. Er bemerkt vermehrt, dass er «keine Nerven mehr habe».
Seit November/Dezember 2022 ist die fehlende Krankengrundversicherung ein Gesprächsthema zwischen der PSA und Hrn. G. Anfänglich äussert er, dass er in Kontakt stehe mit einem Versicherungsberater der Krankenversicherung A, der für ihn eine neue Police beantragen würde. Zum Abschluss brauche der erst aber noch eine Kündigungsbestätigung der alten Krankenkasse (Krankenkasse B). Diese hat die PSA für ihn im Januar 2023 beschafft. Die Sache hat sich hinausgezögert, weil Hr. G. das Dokument verloren hat. Nach erneuter Aushändigung an Hrn. G. und mehrere Wochen später äussert er, dass er nicht mehr mit diesem Versicherungsberater (es stellte sich heraus, dass es ein externer Broker war) zusammenarbeite, dieser sei nicht gut gewesen. Er habe jetzt einen neuen Berater. Die neue Krankenkassenpolice bei Krankenkasse A stehe laut dem neuen Broker kurz vor Abschluss, er brauche nur noch eine Bestätigung des Gefängnisaufenthaltes. Skeptisch von den ganzen Geschichten (und auch in Unverständnis, warum der 9-monatige Gefängnisaufenthalt wichtig sein sollte in einer Lücke von sechs Jahren), spricht die PSA in einer Beratungssequenz in Anwesenheit von Hrn. G. mit dem Versicherungsbroker direkt. Es stellt sich heraus, dass er gegenüber Hrn. G. geäussert hat, dass er eine neue Versicherung abschliessen kann, ohne dass die sechsjährige Lücke nachbezahlt werden muss. Der Broker sagt, dass der Klient im System der Krankenkasse A bereits erfasst sei, zum erfolgreichen Versicherungsabschluss nur noch die Gefängnisaufenthaltsbestätigung fehle. Die PSA verspricht dem Broker, dass sie die Bestätigung noch am selben Tag ausstellen wird und erwartet, dass die Police bis Ende derselben Woche z.Hd. Hrn. G. ausgestellt wird. Das von der PSA im Nachgang geführte Telefongespräch mit Krankenkasse A zeigte, dass die Aussagen des Brokers nicht stimmten: Herr G. war nicht im System vorgemerkt. Die PSA sendet dem Klienten die Bestätigung mit dem Gefängnisaufenthalt zur Weiterreichung an den Broker und erwähnt gleichzeitig, dass sie sich dem Thema Krankenkassenpolice annehmen wird, sollte Hr. G. bis zum nächsten Gesprächstermin keinen erfolgreichen Versicherungsabschluss vorweisen können. In Vorahnung, dass Herr G. ohne eine gültige Police zum nächsten Gespräch kommt, trifft die PSA Vorabklärungen mit der ehemaligen Krankenversicherung B. Mit dem Kontakt zu dieser war seitens der PSA die Hoffnung verbunden, dass das «Lückenthema» dort am besten aufgearbeitet werden kann, da dies die letzte Krankenversicherung von Hrn. G. war (erste Recherchen haben ergeben, dass auch bei der Krankenkasse ein Fehler passiert sein muss im Januar 2017, weil es nicht zu einer Kündigung kommen darf, wenn ein Kunde keine neue Krankenkasse hat und nicht ins Ausland gezogen ist). Die PSA setzt sich zum Ziel, das Thema «Krankenkassenpolice» bis Ende Praxisphase (Ende Mai 2023) abzuschliessen und bereitet mit der Beraterin der Krankenversicherung B alles vor, sodass der Klient die Policenanträge nur noch unterschreiben muss und er dann per Datum seiner Unterschrift wieder versichert ist und mit der zuständigen Sachbearbeiterin die Rückzahlungen der Forderungen, über die nicht gedeckte Zeit besprechen kann.
Situation
Der Klient kommt am zweitletzten Arbeitstag der PSA in ihr Büro. Die PSA und Hr. G. sprechen über seine neu erworbenen Immobilien am Standort Grenchen. Die PSA fragt, wie Hr. G. sich diese finanzieren konnte. Er antwortet, dass er sich von zehn Personen zinslose Darlehen im Gesamtbetrag von 400’000 Franken ausgeliehen hat. Zudem tauscht die PSA sich mit Hrn. G. über sein am 12. Mai 2023 wiedereröffnetes Take-away in Biel aus. Für die PSA wenig überraschend sagt Herr G., dass es nicht wie gewünscht laufe, er das Gefühl habe, dass sein ehemaliger Gefängniskollege, den er zum Betrieb eingestellt hat, seinen guten Ruf kaputt mache.
Die PSA lässt das so stehen und wechselt auf das für sie an diesem Tag wichtige Thema «Krankenkassenpolice». Sie fragt Hrn. G., ob er nun eine Police hat. Dieser verweist abermals auf seinen Broker, der noch immer «dran sei». Die PSA lässt sich nicht mehr abspeisen und informiert Hrn. G., dass sie mit der alten Krankenkasse von Hrn. G. Kontakt hatte. Dass es bei dieser möglich sei, innerhalb von zwei Tagen eine Police zu haben. Die Dokumente würden bereit liegen am Empfang dieser Krankenkasse, die PSA könne sie noch am selben Tag abholen und ihm zur Unterschrift vorbeibringen. Herr G. zögert, ruft seinen Broker an, stellt auf Lautsprecher. Er gibt ihn der PSA zum Gespräch. Der Broker mit ausländischem Dialekt versteht nicht, wer die PSA ist und welche Rolle sie hat. Sie erklärt ihm, dass sie auf der Bewährungshilfe arbeitet und Hrn. G. in div. Themen unterstützt. Die PSA konfrontiert den Broker, dass es nicht sein kann, dass es so lange dauere mit dem Beschaffen einer neuen Krankenkassenpolice. Er antwortet abermals, dass er dran sei und es nur noch wenig Zeit brauche bis zum Abschluss. Die PSA antwortet, dass es jetzt schon mehrere Monate dauere, ohne dass eine Krankenkassenpolice erstellt werden konnte und dass sie das Thema jetzt selbst an die Hand nehmen wird. Der Broker gibt sich verärgert über das Einmischen der PSA, noch immer nicht verstehend, was ihre Rolle ist. Er sagt, dass er sich in diesem Fall jetzt zurückziehe aus diesem Geschäft. Die PSA bestätigt, dass dies in Ordnung und in ihrem Sinn sei und gibt den Telefonhörer wieder an Hrn. G. zurück. Der Broker bestätigt ggü. Hrn. G. nochmals, dass er nun nichts mehr mache, worauf Hr. G. ihn anweist, er solle bitte weitermachen.
Die PSA spürt Verärgerung in sich hochsteigen, auch Verzweiflung, Hilflosigkeit. Ihr Tagesziel, einen positiven Ausgang im Thema erwirken zu können, scheint nicht mehr in Griffnähe. Die PSA steht unvermittelt auf, begibt sich – ohne den Klienten gross zu informieren – kurz aus dem Besprechungszimmer, ins Büro ihrer Praxisausbildnerin (PA), um nach Rat zu fragen. Die PSA ist interessiert daran, zu erfahren, welche Kompetenzen und Durchsetzungsmacht sie in ihrer Rolle – im Sinne des Klienten – hat. Die PSA erfährt von der PA, dass sie den Klienten nicht zwingen könne, die Versicherung bei der von der PSA kontaktierten Krankenkasse abzuschliessen. Sie könne ihm einzig die Konsequenzen aufzeigen und auch ihre Enttäuschung kundtun darüber, dass sie sich so stark für das Thema eingesetzt hat, ohne es jetzt erfolgreich abschliessen zu können.
Die PSA geht zurück zum Klienten. Sie verbalisiert ihre Enttäuschung darüber, dass er sich nicht helfen lässt, dass er ihre Bemühungen nicht annehmen kann, dass er sich jeden Tag einem Risiko aussetzt ohne den Schutz einer Krankenversicherung, was ihr Sorgen bereite. Er scheint sich des Risikos bewusst zu sein und bestätigt das auch. Die PSA spürt, dass ihn vor allem die Tatsache, 20’000 – 25’000 Franken zurückzahlen zu müssen, stark belastet. Herr G. äussert, dass er keine zusätzlichen Betreibungen haben will. Die PSA erklärt ihm, dass er – sofern er sich nicht erneut strafbar machen will – sich jetzt korrekt verhalten muss. Sie erläutert weiter, dass in der Schweiz eine gesetzliche Versicherungspflicht besteht und es eine Holschuld jeder in der Schweiz wohnhaften Person ist, sich einem Krankenversicherungsschutz zu unterziehen. Sie konfrontiert ihn damit, dass er – indem er keine Rechnungen mehr erhalten habe – realisiert haben muss, dass er keine Krankenversicherung mehr habe und er hätte demzufolge reagieren können. Die PSA appelliert an seinen Willen, sich deliktfrei zu verhalten: Auch wenn es bedeute, dass hohe Rückzahlungen auf ihn zukommen – er könne es sich nicht leisten, erneut delinquent zu werden. Zudem sei jeder Krankenversicherer rechtlich verpflichtet, Beitragslücken zu melden. Andernfalls mache auch er sich strafbar. Die PSA konfrontiert Hrn. G. damit, dass aus ihrer Sicht kein Weg daran vorbeiführe, den korrekten Weg zu beschreiten, um die Sache aufzuarbeiten. Evtl. habe Hr. G. eine minimale Chance auf Ermässigung, wenn sich herausstellen sollte, dass auch beim ehemaligen Krankenversicherer, ein Fehler geschehen sei im Januar 2017. Herr G. lenkt ein. Er sagt, er werde den Antrag der ehemaligen Krankenkasse unterzeichnen. Die PSA vereinbart mit ihm, dass sie den Antrag am selben Tag bei der Krankenkasse abholen und bei ihm vorbeifahren werde, um die Unterschrift zu holen. Herr G. bemerkt, dass es ihm sehr wichtig sei, mit der Krankenkasse allfällige Rückforderungen besprechen zu können, insbesondere die Art und Weise der Rückzahlungen. Es liege ihm daran, einen gemeinsamen, guten Weg zu finden, damit der Schuldbetrag nicht auf dem Rechtsweg eingefordert werde. Die PSA verspricht ihm, dass sie dies der zuständigen Sachbearbeiterin bei der Krankenkasse so mitteilen wird und auch ihrer PA, die den Klienten nach Abschluss der Praxisphase wieder für die Beratungsgespräche übernimmt. Nach Abschluss des Gespräches verabschiedet sich die PSA sich von Hrn. G. und wünscht ihm alles Gute. Er dankt ihr und überreicht ihr eine Karte zum Abschluss der gemeinsamen Zusammenarbeit.
[1] Tamil Tigers (LTTE): separatistische Organisation mit dem Ziel, einen unabhängigen Tamilenstaat im überwiegend von Tamilen bevölkerten Norden und Osten der Insel Sri Lanka zu errichten. Die Organisation hat in einem Bürgerkrieg zwischen 1983 und 2009 – u.a. mit dem Einsatz von Kindersoldaten – dem Einfordern bedingungsloser Gefolgschaft den Offensiven der singhalesisch dominierten Armee getrotzt.
SEQUENZ 1
Begrüssung und allgemeiner Informationsaustausch
Der Klient kommt am zweitletzten Arbeitstag der PSA in ihr Büro. Die PSA und Hr. G. sprechen über seine neu erworbenen Immobilien am Standort xy. Die PSA fragt, wie Hr. G. sich diese finanzieren konnte. Er antwortet, dass er sich von zehn Personen zinslose Darlehen im Gesamtbetrag von 400’000 Franken ausgeliehen hat. Zudem tauscht die PSA sich mit Hrn. G. über sein am 12. Mai 2023 wiedereröffnetes Take-away in Biel aus. Für die PSA wenig überraschend sagt Herr G., dass es nicht wie gewünscht laufe, er das Gefühl habe, dass sein ehemaliger Gefängniskollege, den er zum Betrieb eingestellt hat, seinen guten Ruf kaputt mache.
Reflection in Action
Emotion Klient
Freudig/entspannt/zugewandt: Ich spüre Freude auf die PSA und auf das Gespräch. Es ist eine Connection und ernsthaftes Interesse der PSA über die letzten Monate entstanden. Die PSA hört mir zu, obwohl ich weiss: «helfen kann sie mir nicht, nur ich kann mir helfen; das hebt meine innere Stimmung.»
Stolz: Aufgrund der erfolgten Geldbeschaffung und den Immobilienkauf.
Frustriert/unzufrieden/leicht wütig/vorübergehend resigniert zur Situation mit dem Take-away: «Schon wieder etwas, was nicht so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt habe, es ist nicht meine Schuld, ich fühle mich im Stich gelassen.»
Emotion Professionelle
Bedauern: es ist das letzte Gespräch mit den KL; Abschied.
Verwunderung: wie hat er es geschafft die Immobilie zu kaufen?
Mitgefühl: dass es mit dem Take-away nicht gut gelaufen ist; ich habe gespürt, wie wichtig ihm das Projekt ist.
Bewunderung: dass der Klient ‚es‘ immer wieder schafft (Geld leihen, Immobilienkauf, etc.)
Angespannt: weil ich das Thema «Krankenkassenpolice» durchbringen will und der Zeitrahmen beschränkt ist.
Kognition Professionelle
Ich will einen klaren Fokus im Gespräch legen, zügig zum Punkt kommen. Ich habe mich gut auf dieses letzte Gespräch vorbereitet (Vorabklärung mit der Krankenkasse) und will damit das Thema ‚Krankenkassenpolice‘ ins Zentrum stellen. Ich habe mir das Ziel gesetzt, eine neue Krankenkassenpolice abzuschliessen. Da es das letzte Gespräch ist, will ich die Unterstützung so weit wie möglich vorantreiben und das Thema zu Ende bringen.
Ich bin gedanklich bereits bei diesem Fokusthema und will diesen einleitenden Gesprächsabschnitt – aufgrund der begrenzten Zeit – schnell abschliessen.
SEQUENZ 2
Klärung des Status Quo auf Seiten Klient und Information der Abklärungen der PSA
Die PSA lässt das so stehen und wechselt auf das für sie an diesem Tag wichtige Thema «Krankenkassenpolice». Sie fragt Hrn. G., ob er nun eine Police hat. Dieser verweist abermals auf seinen Broker, der noch immer «dran sei». Die PSA lässt sich nicht mehr abspeisen und informiert Hrn. G., dass sie mit der alten Krankenkasse von Hrn. G. Kontakt hatte. Dass es bei dieser möglich sei, innerhalb von zwei Tagen eine Police zu haben. Die Dokumente würden bereit liegen am Empfang dieser Krankenkasse, die PSA könne sie noch am selben Tag abholen und ihm zur Unterschrift vorbeibringen.
Reflection in Action
Emotion Klient
Hilflos, fremdgesteuert, bedrängt: ich spüre, dass die PSA mir helfen will, möchte aber meinen Weg weiter gehen, da ich die Rückzahlungen umgehen will und weiterhin Hoffnungen habe, dass ich in Zusammenarbeit mit dem Broker die Rückzahlungen nicht tätigen muss.
hartnäckig, widerspenstig: Ich habe Vertrauen in meinen Broker und will an ihm festhalten
Gestresst und überfordert: wenn ich daran denke, den von der PSA vorgeschlagenen Weg zu gehen und Rückzahlungen tätigen zu müssen.
Angst und Überforderung: bei dem Gedanken an eine zusätzliche Last einer weiteren «Baustelle» durch mehr Schulden.
Emotion Professionelle
ärgerlich, ungeduldig: dass der KL es immer noch nicht geschafft hat, sich eine KK-Police zu beschaffen und so seine Gesundheit gefährdet.
Gestresst und zielfokussiert: es muss heute geklärt werden, da es der letzte gemeinsame Termin ist.
Kognition Professionelle
Es ist so, wie ich erwartet habe: der KL ist immer noch ohne KK-Police. Ich will mein Tagesziel erreichen und den Antrag durchbringen, es ist eine realistische Alternative und so ist der KL in kurzer Zeit krankenversichert.
Ich bin gut vorbereitet durch meine Vorabklärungen und habe Interesse daran, dem KL meinen Alternativvorschlag so darzulegen/ihn zu überzeugen, dass er die Vorteile sieht, den Versicherungsschutz bei der ehemaligen Krankenasse wieder aufzunehmen bzw. auf meinen Vorschlag einzugehen.
Ich bin überzeugt, dem KL eine gute Alternative zur Unterstützung des Brokers anbieten zu können, die zu einem zeitigen Abschluss führt, da der Antrag zur Unterschrift bei der KK bereits bereit liegt.
SEQUENZ 3
Telefonat mit dem Versicherungsbroker und Uneinsichtigkeit des Klienten
Herr G. zögert, ruft seinen Broker an, stellt auf Lautsprecher. Er gibt ihn der PSA zum Gespräch. Der Broker mit ausländischem Dialekt versteht nicht, wer die PSA ist und welche Rolle sie hat. Sie erklärt ihm, dass sie auf der Bewährungshilfe arbeitet und Hrn. G. in div. Themen unterstützt. Die PSA konfrontiert den Broker, dass es nicht sein kann, dass es so lange dauere mit dem Beschaffen einer neuen Krankenkassenpolice. Er antwortet abermals, dass er dran sei und es nur noch wenig Zeit brauche bis zum Abschluss. Die PSA antwortet, dass es jetzt schon mehrere Monate dauere, ohne dass eine Krankenkassenpolice erstellt werden konnte und dass sie das Thema jetzt selbst an die Hand nehmen wird. Der Broker gibt sich verärgert über das Einmischen der PSA, noch immer nicht verstehend, was ihre Rolle ist. Er sagt, dass er sich in diesem Fall jetzt zurückziehe aus diesem Geschäft. Die PSA bestätigt, dass dies in Ordnung und in ihrem Sinn sei und gibt den Telefonhörer wieder an Hrn. G. zurück. Der Broker bestätigt ggü. Hrn. G. nochmals, dass er nun nichts mehr mache, worauf Hr. G. ihn anweist, er solle bitte weitermachen.
Reflection in Action
Emotion Klient
Dankbar: für das Engagement der PSA, sich für mich einzusetzen.
Zögerlich, hin- und hergerissen, unsicher: welchen Weg soll ich einschlagen?
Hin- und hergerissen und unbehaglich: Ich stehe zwischen den zwei Personen (Broker/PSA) und deren Intentionen.
Hoffnungsvoll: dass die beiden das klären können und es für mich gut kommt, ich die Rückzahlungen umgehen kann. Meine Hoffnung kippt, als ich merke, dass die PSA das jetzt übernehmen will.
Wut und Unverständnis: Dass die PSA kurz vor dem Ziel alles umwirft und meinen Plan durchkreuzt.
Angst, Überforderung, Ungewissheit: Was bedeutet das jetzt für mich?
Emotion Professionelle
Wut, Ungeduld: Es geht nicht weiter, obwohl laut Broker schon vor drei Wochen eine Police hätte abgeschlossen werden sollen.
Unverständnis: Woran liegt es, dass es nicht vorwärts geht? Wofür braucht es den Broker überhaupt? Und warum hält der KL an der Beziehung zum Broker fest?
Zweifel: Macht der Broker seinen Job? Arbeitet er bei einem seriösen Unternehmen?
Ohnmacht / Hilflosigkeit / Verärgerung: Ich habe eine Abmachung mit dem Broker getroffen und der KL macht diese wieder rückgängig.
Erleichterung: Der Broker nimmt sich selbst aus dem Spiel und übergibt mir die Verantwortung.
Frustration: über die fehlende Wertschätzung meines Engagements und die fehlende Einsicht des KL über seine eigene, kritische Situation (Gesundheit und Straffreiheit).
Beunruhigung: ich fühle mein Tagesziel, eine neue KK-Police zu aktivieren, gefährdet.
Kognition Professionelle
Ich will Gas geben. Ich habe dem KL und dem Broker die Chance gegeben, die Angelegenheit selbst zu klären; da nichts passiert, entscheide ich jetzt (wie angekündigt), die Sache selbst an die Hand zu nehmen. Ich will nicht, dass der Broker weiterhin mitmischt und die Sache hinauszögert, da ich in ihm keine Hilfe sehe.
Ich verstehe nicht, warum der Klient an dem Broker festhält, wenn es auch mit diesem nicht vorwärts geht. Ich verstehe nicht, warum der KL nicht sieht, dass ich ihm schneller und zielgerichteter Unterstützung bieten kann. Ich werde ausgebremst vom Klienten.
SEQUENZ 4
Kurze Gesprächspause; Die PSA sichert sich bzgl. ihrer Handlungsweise bei ihrer PA ab
Die PSA spürt Verärgerung in sich hochsteigen, auch Verzweiflung, Hilflosigkeit. Ihr Tagesziel, einen positiven Ausgang im Thema erwirken zu können, scheint nicht mehr in Griffnähe. Die PSA steht unvermittelt auf, begibt sich – ohne den Klienten gross zu informieren – kurz aus dem Besprechungszimmer, ins Büro ihrer Praxisausbildnerin (PA), um nach Rat zu fragen. Die PSA ist interessiert daran, zu erfahren, welche Kompetenzen und Durchsetzungsmacht sie in ihrer Rolle – im Sinne des Klienten – hat. Die PSA erfährt von der PA, dass sie den Klienten nicht zwingen könne, die Versicherung bei der von der PSA kontaktierten Krankenkasse abzuschliessen. Sie könne ihm einzig die Konsequenzen aufzeigen und auch ihre Enttäuschung kundtun darüber, dass sie sich so stark für das Thema eingesetzt hat, ohne es jetzt erfolgreich abschliessen zu können.
Reflection in Action
Emotion Klient
Resignation: Durch die kurze Ruhepause, Bewusstwerden der Situation und dass es jetzt eine Lösung geben muss. Dadurch, dass die PSA das Thema selbst an die Hand nehmen will, habe ich gemerkt, dass es dringend ist und akzeptiere innerlich, den Weg der PSA mitzugehen.
Emotion Professionelle
Hoffnung: Dass die PA mir sagt, ich dürfe für den KL entscheiden.
Resignation und Ernüchterung: das Gespräch mit der PA zeigt mir auf, dass nicht ICH entscheiden kann. Ich will dem KL helfen, mein Weg mag zielführender sein, aber letztendlich entscheidet der KL.
Ausgeliefert, ohnmächtig: Bewusstwerden der Grenzen der Hilfestellung.
Enttäuschung/Ernüchterung: Ich kann den KL nicht zu seinem Glück zwingen.
Kognition Professionelle
Ich kann die Situation nicht akzeptieren. Ich will das maximal mögliche für den KL tun und entscheide mich spontan, mich kurz mit meiner PA abzusprechen, um zu erfahren, wo meine Kompetenzen und Möglichkeiten liegen.
Ich mache ein kurze Pause im Klientengespräch und begebe mich ins Büro der PA. Im Gespräch mit der PA wird mir klar – ich muss die Gegebenheiten akzeptieren, der KL kann entscheiden.
SEQUENZ 5
Ausdruck der Enttäuschung und Aufzeigen der Konsequenzen des uneinsichtigen / schädlichen Verhaltens
Die PSA geht zurück zum Klienten. Sie verbalisiert ihre Enttäuschung darüber, dass er sich nicht helfen lässt, dass er ihre Bemühungen nicht annehmen kann, dass er sich jeden Tag einem Risiko aussetzt ohne den Schutz einer Krankenversicherung, was ihr Sorgen bereite. Er scheint sich des Risikos bewusst zu sein und bestätigt das auch. Die PSA spürt, dass ihn vor allem die Tatsache, 20’000 – 25’000 Franken zurückzahlen zu müssen, stark belastet. Herr G. äussert, dass er keine zusätzlichen Betreibungen haben will. Die PSA erklärt ihm, dass er – sofern er sich nicht erneut strafbar machen will – sich jetzt korrekt verhalten muss. Sie erläutert weiter, dass in der Schweiz eine gesetzliche Versicherungspflicht besteht und es eine Holschuld jeder in der Schweiz wohnhaften Person ist, sich einem Krankenversicherungsschutz zu unterziehen. Sie konfrontiert ihn damit, dass er – indem er keine Rechnungen mehr erhalten habe – realisiert haben muss, dass er keine Krankenversicherung mehr habe und er hätte demzufolge reagieren können. Die PSA appelliert an seinen Willen, sich deliktfrei zu verhalten: Auch wenn es bedeute, dass hohe Rückzahlungen auf ihn zukommen – er könne es sich nicht leisten, erneut delinquent zu werden. Zudem sei jeder Krankenversicherer rechtlich verpflichtet, Beitragslücken zu melden. Andernfalls mache auch er sich strafbar. Die PSA konfrontiert Hrn. G. damit, dass aus ihrer Sicht kein Weg daran vorbeiführe, den korrekten Weg zu beschreiten, um die Sache aufzuarbeiten. Evtl. habe Hr. G. eine minimale Chance auf Ermässigung, wenn sich herausstellen sollte, dass auch beim ehemaligen Krankenversicherer, ein Fehler geschehen sei im Januar 2017.
Reflection in Action
Emotion Klient
Erdrückend, schwindelig: die Erklärungen / Begründungen der PSA überfordern mich. Die Aussagen der PSA wirken auf mich wie eine Predigt, ich fühle mich klein.
Schuldig: Ich weiss, dass ich etwas falsch gemacht habe; die PSA erklärt mir, wie es richtig funktioniert.
Hilflos/überfordert/eingeengt/ausgeliefert: ich werde von der Situation bestimmt.
Ermutigt und bestärkt zum Ende hin: ich werde den Weg mit all seinen Schwierigkeiten gehen.
Emotion Professionelle
Entlastung: Ich spüre, dass ich getan habe, was ich konnte und kann jetzt loslassen, egal, wie der KL sich betreffend meinem Hilfeangebot entscheidet.
Verständnis: für die Sorgen und die Ängste des KL, die aufkommen.
Besorgt: ich möchte, dass der KL auf einem deilktfreien Pfad bleibt.
Empathisch: Ich sorge mich um den KL und seine Situation und spüre Mitgefühl.
Kognition Professionelle
Ich akzeptiere, dass ich alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe und dass ich die Verantwortung an den KL zurückgeben muss.
Mir ist es wichtig, dem KL immerhin die Konsequenzen seiner Handlungsweise und seine Verantwortung aufzuzeigen als Grundlage für seinen Entscheid.
Ich will in meiner verbleibenden Praktikumszeit alles daransetzen, mich im Sinne des KL einzusetzen.
SEQUENZ 6
Klient entscheidet sich zur Kooperation
Herr G. lenkt ein. Er sagt, er werde den Antrag der ehemaligen Krankenkasse unterzeichnen. Die PSA vereinbart mit ihm, dass sie den Antrag am selben Tag bei der Krankenkasse abholen und bei ihm vorbeifahren werde, um die Unterschrift zu holen. Herr G. bemerkt, dass es ihm sehr wichtig sei, mit der Krankenkasse allfällige Rückforderungen besprechen zu können, insbesondere die Art und Weise der Rückzahlungen. Es liege ihm daran, einen gemeinsamen, guten Weg zu finden, damit der Schuldbetrag nicht auf dem Rechtsweg eingefordert werde. Die PSA verspricht ihm, dass sie dies der zuständigen Sachbearbeiterin bei der Krankenkasse so mitteilen wird und auch ihrer PA, die den Klienten nach Abschluss der Praxisphase wieder für die Beratungsgespräche übernimmt.
Reflection in Action
Emotion Klient
Erleichterung, Entlastung: endlich ist das Thema «Krankenkasse» als eines von vielen Themen vom Tisch. Ich befinde mich nicht mehr in einer illegalen Situation.
Zuversicht: Ein erster Schritt auf einem positiven / deliktfreien Weg ist gemacht. Hoffentlich geht es weiter so.
Sorge/Unsicherheit: ist weiterhin gross. «Was kommt da auf mich zu?». Wie gut läuft die Kooperation mit der KK wegen der Rückzahlung?
Emotion Professionelle
Erleichterung: über das Einlenken des KL.
Entlastung: darüber, das Thema abschliessen zu können.
Dankbar: für die Einsicht des KL, dass dies für ihn der einzige/richtige (deliktfreie) Weg ist.
Ein Rest an Unsicherheit: kommt es wirklich gut? Es ist ja noch nichts unterschrieben.
Verständnis: Dass der KL mit der KK eine gute Lösung für die Rückzahlung finden will.
Kognition Professionelle
Ich will den KL nach meinen noch vorhandenen Möglichkeiten unterstützen, was die Rückzahlungen angeht und ihm dies zur mitteilen, damit er in der Situation wenigstens eine gewisse Entlastung verspüren kann.
Ich verstehe die Sorgen des KL um zusätzliche finanzielle Belastung aufgrund der Rückzahlung und versichere ihm, noch am selben Tag mit meiner Ansprechperson bei der Krankenkasse zu telefonieren, um ihr seine Anliegen betr. Rückzahlungsmodalität mitzuteilen. Ich will einen positiven Abschluss hinbekommen und bestätige ihm auch, dass ich alles in der Arbeitsübergabe an meine PA notieren werde, damit diese im Bild ist.
SEQUENZ 7
Verabschiedung / Abschluss
Nach Abschluss des Gespräches verabschiedet sich die PSA sich von Hrn. G. und wünscht ihm alles Gute. Er dankt ihr und überreicht ihr eine Karte zum Abschluss der gemeinsamen Zusammenarbeit.
Reflection in Action
Emotion Klient
Dankbarkeit: für die ehrliche Verbundenheit und den geleisteten Einsatz der PSA
Erleichterung: es ist ein Punkt gemacht. Die Last durch die nicht geregelte KK-Situation ist grösstenteils weg.
Unsicherheit: wie geht die Bewährungshilfe für mich in Zukunft ohne die bisherige PSA weiter?
Emotion Professionelle
Verbundenheit: Ich konnte über die letzten Monate eine Beziehung zum Klienten aufbauen
Rührung: über die Geste der Abschiedskarte
Bedauern: über den Abschied eines KL, den ich in seinen Themen gerne weiter begleitet hätte.
Sorgenvoll: über die Einstellung der PA gegenüber dem KL und dementsprechend über die Weiterbetreuung.
Dankbarkeit: dass ich zumindest ein Ziel mit dem KL erreichen konnte.
Kognition Professionelle
Ich hätte den KL und seinen Fall gerne weiterbegleitet. Mich hätte interessiert, wie dieser ausgegangen wäre (Aufarbeitung 6-Jahres-Lücke und geforderte Rückzahlung bzw. allfälliges Entgegenkommen der KK).
Ich erkenne durch das Verhalten des KL, dass wir eine Vertrauensbasis hatten.
Ich weiss, dass ich jetzt aber loslassen muss mit dem Ende meiner Praxisphase und bin zufrieden, immerhin ein Teilziel zusammen mit dem Klienten erreicht zu haben.
5.1 Erklärungswissen – Warum handeln die Personen in der Situation so?
Woher rührt die Ambivalenz des Klienten zwischen Annehmen- und Nicht-Annehmen-Können des Vorschlags der PSA?
Männliche Muster zur Bewältigung
Männlichkeit ist eine soziale Konstruktion und trotzdem sehr stark verankert, zwar nicht biologisch, aber doch gesellschaftlich (vgl. Böhnisch 2015: 11).
Mit Bezug auf die Arbeiten von Robert W. Connell und Michael Meuser und deren Konzept der «hegemonialen Männlichkeit» werden die Macht- und Dominanzverhältnisse von Männern gegenüber Frauen umschrieben. Allerdings ist zu kritisieren, dass hauptsächlich die dominante Seite beleuchtet wird und die Tatsache, dass auch Männer diesen (eigenen) Machtverhältnissen unterworfen sind (vgl. Böhnisch 2015: 28). Es fehlt den Männern eine Rückzugsmöglichkeit aus diesen Machstrukturen, wie sie beispielsweise bei den Frauen durch den gesellschaftlich sanktionierten Mutterschutz gegeben ist.
Somit fehlt in diesem Konzept, aber auch in der Lebenswelt von Männern und Jungen die Möglichkeit, Verletzlichkeit, also Schwäche zeigen zu dürfen und Bedürftigkeit, also die Sehnsucht nach etwas, dass einem verwehrt bleibt und dadurch männliches Bewältigungsverhalten hervorrufen kann. Es entsteht ein starkes Spannungsfeld zwischen dem «Innen», also einem empathischen Zugang zu sich selbst, zu seinen Gefühlen und wahren Bedürfnissen und dem «Aussen», was für dominantes, «männliches» Verhalten steht, welches häufig im Beruf und in der Gesellschaft gefordert und auch gelebt wird) (vgl. ebd.: 28).
Das dominante Durchsetzungsverhalten geht dann auch häufig mit innerer Hilflosigkeit einher und viele externalisierte Verhaltensweisen von Männern lassen die Bedürftigkeit, welche eigentlich dahintersteht, nicht erahnen.
Männer sind von also mehr mit nach aussen gerichtetem (und somit dominantem) Verhalten sozialisiert. Dies bedeutet, dass sie sich auch deutlich mehr an Leistung orientieren und funktionieren müssen. Als Beispiel kann man das schlechte Zeugnis eines Sohnes nehmen, bei welchem der Vater sieht, dass der Sohn nicht funktioniert und das bedeuten könnte (oder gesellschaftlich gesehen wird), dass auch der Vater nicht funktioniert (vgl. ebd.: 29).
«Für den Mann ist sein Inneres eine gefährliche Zone. Er betritt sie nur ungern. Für ihn stellt sie ein Minenfeld dar.» (Schwanitz 2001: 100)
Bei männlichen Freundschaften zeigt sich dieses «nach aussen gerichtete» Verhalten ebenfalls. Männer treffen sich meist zu einer Aktivität und verbinden sich über dieses Tun miteinander, wobei Frauen diesen «Umweg» meist nicht benötigen (vgl. Böhnisch 2015: 32).
Ambivalenz
Ambivalenz kann man als einen Zustand beschreiben, bei dem man zum gleichen Thema «positive» wie auch «negative» Gedanken hat, man will etwas und gleichzeitig auch nicht, oder man will zugleich das Gegenteil. Man deutet etwas positiv und zugleich negativ (Riklin, 1910/11: 405).
Man ist hin- und hergerissen, man pendelt, balanciert, zögert, zweifelt und schwebt zwischen den Möglichkeiten. Man kann dies auch als «Oszillieren» bezeichnen (vgl. Lüscher/Fischer o.J.: 86). Dazu kommen noch zeitliche Aspekte, Erfahrungen aus der Vergangenheit, gegenwärtige Situationen, Problemlagen sowie zukünftige Erwartungen, Ängste. Dies vermischt sich alles miteinander, wird quasi mehrdimensional und auch als «Vaszillieren» bezeichnet (vgl. ebd.: 86).
Man kann Ambivalenz auch als normale Zwischenstufe auf dem Weg zur Veränderung bezeichnen (vgl. Millner/Rollnick, 2015: 187).
Obwohl Ambivalenz im Alltag häufig unerwünscht ist und als hinderlich gilt, ist diese Empfindung sehr vertraut und als diffuses Gefühl beschrieben (vgl. Lüscher, 2011: 325).
Da wir unsere Welt in Gegensätzen beschreiben, sind Differenzen allgegenwärtig und Alternativen Teil unserer Lebenswelten. Dieses «Oszillieren» unserer Gedanken und Emotionen prägt uns und es ist wichtig, dass wir uns dessen bewusst sind. Damit können neue Möglichkeiten des Handelns und der Gestaltung von Beziehungen entstehen und Unsicherheiten ausgehalten werden (vgl. ebd.: 326).
Der Ursprung des Konzepts der Ambivalenz führt zurück in die Psychoanalyse (vgl. Lewin 1951, Miller 1944, zit. nach Hänze 2002, 77f.) Die Forschung zum Thema Ambivalenz zeigt, dass Personen in einem bestimmten Moment gleichzeitig positive wie negative, also zwei konträre, Bewertungen zu einer Sache haben und dass die Reaktionszeit bei ambivalenten Prozessen ansteigt (vgl. ebd.). Ambivalenzen können zu jedem Menschen gehören und sie können auf unterschiedliche Weise erlebt werden. Ungesund sind Ambivalenzen dann, wenn eine Unfähigkeit vorhanden ist, sich Ambivalenzen einzugestehen und damit umzugehen (vgl. Dietrich/Lüscher/Müller 2009: 20). Menschen sind also gefordert, einen Umgang mit Ambivalenzen zu finden. Dies kann ein Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Überbestimmtheit bzw. sozialer Kontrolle und dem Bemühen von Authentizität und der Suche nach sich selbst auslösen, welches es zu lösen gilt (vgl. ebd.: 36f.).
Hänze (2002: 92) erwähnt im Zusammenhang mit der Ambivalenz und der eigenen Persönlichkeit die Ambiguitätsintoleranz. Diese wird unterteilt in einen kognitiven und in einen emotionalen Aspekt. Kognitive Ambiguitätsintoleranz bedeutet die Unfähigkeit, miteinander in Konflikt stehende Faktoren wahrzunehmen bzw. zu erkennen und verarbeiten zu können. Emotionale Ambiguitätsintoleranz wird als Unfähigkeit beschrieben, mehrdeutige Gefühle gleichzeitig ertragen zu können. Eine ambivalente Einstellung liefert in persönlicher und sozialer Hinsicht Gründe, sich nicht entscheiden zu können (vgl. ebd.). Wer eine ambivalente Einstellung hat, kann aus subjektiver Sicht keine gute Entscheidung treffen, insbesondere dann, wenn starke Gefühle mit im Spiel sind (vgl. ebd.).
Durchgeführte Studien machen deutlich, dass Emotionen eine grosse Rolle für die Regulation eines Verhaltens darstellen (vgl. ebd.: 188). Empfindungen, sei es als gefühlsbetonte Bewertungen, Einstellungen oder einem damit verbundenen Erfahrungsnutzen, lenken unser Verhalten (vgl. ebd.). Ambivalenzen signalisieren einem Entscheider, innezuhalten und sich vor Ausführung einer Handlung tiefer mit einem Thema zu beschäftigen (vgl. ebd. 189). Luthe (1997, zit. nach Dietrich et al. 2009: 35) sieht Prozesse des Aufbaus von Ambivalenz als Momente der Kontrolle und der Bewältigung von Sicherheiten. Ambivalenz löst vielfach Widerwillen aus und ist verbunden mit einem intrapsychischen Konflikt, der eine emotionale Belastung auslöst. Ziel dieses Vertiefungsprozesses ist die Heranbildung von handlungsleitenden Emotionen und die (Wieder-)Erlangung der Handlungsfähigkeit (vgl. Hänze 2002: 188). Dies ist möglich, wenn Adressatinnen und Adressaten ihre Emotionen mit Handlungen, Handlungskonsequenzen oder auch mit Entscheidungsstrategien verknüpfen (vgl. ebd.). Studienerkenntnisse zeigen (vgl. ebd.: 190f.):
- Die Verknüpfung von Emotionen mit Handlungsausführung oder Handlungskonsequenzen schafft Handlungsbereitschaft.
- Ambivalenz blockiert die Ausführung von Handlungen.
- Ambivalente emotionale Bewertungen führen in Entscheidungssituationen zu emotionaler Belastung. Diese können Konfliktbewältigung in Form von Vermeidung auslösen.
Selbstwirksamkeit
Hindernisse scheinen manchmal unüberwindbar, bis jemand dies tut und die Grenzen verschiebt. Diese ursprüngliche Grenze hat danach keine relevante Wirkung mehr.
Daraus ist zu schliessen, dass uns psychische Barrieren begrenzen und nicht beispielsweise körperliche Grenzannahmen (vgl. Bandura, 1997: 396).
Unter Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung eines Menschen zu verstehen, schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können (vgl. Schwarzer & Jerusalem, 2002: 28-53).
Diese Selbstwirksamkeit entsteht hauptsächlich dort, wo Klienten und Klientinnen Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten zu Problemen und ihres Lebens erhalten. Dies impliziert, dass die Klientel die entsprechende Handlungskompetenz erhalten (vgl. Grossmann, 2005: 363).
Die Beratungs- oder auch Therapiegespräche sollen Erfahrungen fokussieren, welche mit Selbstwirksamkeit verbunden sind (vgl. ebd.: 364).
Sie entfaltet sich vielfach dort, wo Klientinnen und Klienten sich als mit Mitteln und Strategien verbunden wahrnehmen. Diese Mittel und Strategien können materielle, immaterielle, psychische oder auch soziale Ressourcen sein (vgl. ebd.: 365).
RELATIONIERUNG
Woher rührt die Ambivalenz des Klienten zwischen Annehmen- und Nicht-Annehmen-Können des Vorschlags der PSA?
Der Klient ist sich grundsätzlich bewusst, dass er seine aktuelle Situation, mit der nicht vorhandenen Krankenkassenversicherung, ändern muss. Auch die zeitliche Brisanz ist ihm klar. Ob er diese Dringlichkeit eher aufgrund seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes oder der gesetzlichen Notwendigkeit sieht, ist nicht klar.
Die Tatsache, dass er bereits zum aktuellen Zeitpunkt stark verschuldet ist und sich diese Verschuldung durch die drohende Rückzahlung der nicht geleisteten Krankenkassenprämien der letzten Jahre nochmals deutlich erhöhen würde, bringt ihn in eine Situation, die sehr viel Druck auf seinen emotionalen Zustand ausübt. Diesen Druck versucht er zu verringern, indem er diese Rückzahlung umgehen möchte. Durch den von ihm engagierten Versicherungsbroker wurde ihm diese Möglichkeit wahrscheinlich auch immer wieder schmackhaft gemacht. Da dieser Prozess aber keine nennenswerten Fortschritte macht und die PSA ihn immer wieder auf die zeitnahe Notwendigkeit aufmerksam macht, löst bei ihm eine Ambivalenz aus. Es scheint, als ob der Klient konstant daran ist eine Güterabwägung zu machen, bei welcher er die Optionen immer wieder prüft und gegeneinander abwägt. Da sein Vertrauen in den Broker zwar nicht mehr so gross ist, aber noch nicht ganz verschwunden, ist er nicht in der Lage, diese für ihn optimale Lösung loszulassen.
Da er sich möglicherweise mit in patriarchalen Gesellschaften anerzogenen männliche Attributen, wie stark sein, Probleme selbst lösen identifiziert und wahrscheinlich nicht gelernt hat über seine Gefühle und seine Probleme zu reden, fällt es ihm auch schwer, externe Hilfe anzunehmen. Wobei beratende Hilfe für ihn noch eher annehmbar scheint, da diese in einem Zwangskontext verortet ist, aber letztlich wird sein grosses Interesse, seine Probleme selbst zu lösen, erkennbar.
Sein erschwerter Zugang zu seiner Gefühlswelt macht es für ihn auch sehr schwierig mit anspruchsvollen Gefühlen, wie in diesem Fall Schuld und vor allem Scham umzugehen. Diese Unfähigkeit zeigt sich mit einer Vermeidungsstrategie. Vermeidung, die Verantwortung für sein Handeln und letztlich sein Glück komplett selbst zu übernehmen. Möglicherweise zweifelt er daran, dass er in diesen Angelegenheiten, auch aufgrund seiner Lese- und Schreibschwäche, nicht ausreichend kompetent, innerlich fühlt er sich trotz allen seinen beachtlichen Ressourcen nicht in der Lage diese für ihn insgesamt komplexe Situation zu lösen.
Der durch die Pause im Beratungsgespräch wegfallende Druck auf den Klienten lässt womöglich eine Art Resignation zu, bei welcher er akzeptieren kann, dass der von der PSA vorgeschlagene Weg zwar nicht sein Optimum darstellt, aber seine Delinquenz abwendet, ihn gesundheitlich absichert und auch seine Ambivalenz in dieser Sache beendet.
Warum fühlt sich die PSA im Gespräch so «zerrissen» zwischen ‘Wahrung der Selbstwirksamkeit’ des Klienten und der angestrebten Hilfestellung im Sinne der Fürsorge inkl. der Wahrung des gesetzlichen Rahmens?
Soziale Arbeit und Zwang
Im öffentlichen Bewusstsein gelten Sozialarbeitende als unterstützende Personen, die Hilfestellungen anbieten. Der Gedanke, dass Zwang ausgeübt werden könnte, passt für das allgemeine Verständnis nicht zu dieser Hilfestellung. Denn wer hilft, kann nicht gleichzeitig Macht ausüben und schon gar nicht Zwang (vgl. Lindenberg/Lutz 2021: 11). Viele Sozialarbeitende sehen sich als nicht zwangsausübend. Dies kann sogar auf jede zutreffen, die im Umfeld eines Zwangskontextes (z.B. Strafvollzug) arbeiten (vgl. ebd.: 11). Grundsätzlich gehört Zwang nicht zum beruflichen Selbstverständnis von Professionellen der Sozialen Arbeit, denn sie haben gelernt, Hilfestellungen zu leisten und tragen diese Haltung durch ihren Berufsalltag. Zwänge werden eher Berufsgattungen wie Polizisten oder Juristen zugeordnet. Fakt ist jedoch, dass alle Sozialarbeitenden mit Macht ausgestattet sind und damit auch über Zwangsmittel verfügen (vgl. ebd.: 12). Dabei geht es nicht nur um die sichtbaren Zwänge wie zum Beispiel festgeschriebene Gesetzesartikel, für deren Umsetzungen Sozialarbeitende zu sorgen haben. Es geht auch um Massnahmen, die der fachlichen Einschätzung von Sozialarbeitenden unterliegen, beispielsweise, wenn es um Entscheide geht, ob einer Klientin oder einem Klienten eineLeistung zusteht oder wenn eine Empfehlung zum Entzug der elterlichen Sorge ausgesprochen wird (vgl. ebd.: 12). Damit wird aus dem Anspruch auf Hilfe Zwang, Adressatinnen Adressaten bleibt oft nur die Unterwerfung. Lindenberg/Lutz beschreiben diesen Zwang als eine «nicht selten verdrängte Wirklichkeit der Sozialen Arbeit.» (vgl. ebd.: 12) Denn im Arbeitsalltag von Sozialarbeitenden kommt es häufig vor, dass Tätigkeiten mit einer Einschränkung der Handlungsfreiheit von Adressatinnen oder Adressaten verbunden sind. Auch wenn dies nicht das Ziel einer Zusammenarbeit ist, so werden Adressatinnen oder Adressaten durch Sozialarbeitende doch immer wieder gegen ihren Willen dazu gebracht, Dinge zu tun oder zu lassen (vgl. ebd.: 13). Im Themenfokus stehen die Zwangsformen, die von der Sozialen Arbeit ausgehen, die im Sozialen Handeln geplant oder spontan eingesetzt werden: Zwangsformen, die den Adressatinnen oder Adressaten ein Stück Freiheit nehmen (vgl. ebd.: 13). Die Zwangsformen der Fachkraft treten in der Selbstbeschreibung für den professionellen Arbeitsalltag häufig in den Hintergrund. Lindenberg und Lutz (2021: 13f) beschreiben es so: «Zwangsformen werden als ungeliebte Nebeneffekte nach Möglichkeit ausgeblendet, weil sie das professionelle Selbstbild gefährden. Soziale Arbeit will (…) zum selbstständigen und selbstbestimmten (…) Handeln anleiten, sie will ermöglichen und ermächtigen. Das verträgt sich nicht mit Zwang.»
Ökonomisierung der SA
Kleve (2007: 40) erwähnt die Diskussion um Konzepte in der Fallarbeit, die zum Ziel haben, die Effektivität, Effizienz und Zielwirksamkeit der Sozialen Arbeit bei gleichzeitiger Kostenreduktion zu steigern. Er geht in diesem Zusammenhang auf die Anwendung eines wirksamen systemischen Case Managements ein, welches eine Steigerung der Zielwirksamkeit und eine Erhöhung der Effizienz dank verstärkter Selbsthilfeorientierung zur Folge hat. Mit einem wirksamen systemischen Case Management können nichtbeabsichtigte Ambivalenzen zwischen Hilfe und Nichthilfe ausgehebelt bzw. minimiert werden und es kann schneller von professioneller Hilfe in Richtung Nichthilfe gewechselt werden (vgl. ebd. 41).
Betrachtet auf die Wirtschaftlichkeit braucht es weniger professionelle Unterstützung bei der Aktivierung klientinnen- oder klienteneigener, informeller Ressourcen (vgl. ebd.: 41). Kleve (2007: 41) betont, dass es «(…) darum geht, dort anzusetzen, wo die Klientinnen und Klienten sich befinden, und keine Haltung (…) einzunehmen, die vorgibt, zu wissen, was das Richtige und Beste für die Klientinnen und Klienten ist.»
Der Effizienzgedanke kann in den Hintergrund rücken, wenn Organisationen es schaffen, sich permanent bewusst zu sein, dass Hilfe potenziell auch Abhängigkeit, Unselbstständigkeit und Passivität – also Nichthilfe – bedeuten kann. Wenn sich eine Organisation also immer das grundsätzliche Ziel setzt, so schnell wie möglich – aber so langsam wie nötig – Hilfe in Nichthilfe zu überführen; gestützt auf die Selbsthilfe und Kompetenz der Klientinnen und Klienten (vgl. ebd.: 93f).
Spannungsfelder / Strukturell bedingte Ambivalenzen / Hilfe und Nichthilfe
Professionelle Soziale Beratung findet zwischen den beiden Vertikalpolen «Freiwilligkeit» und «Gesetzliche Massnahmen» sowie auf der horizontalen Achse zwischen «Materiellen Problemen» und «Psychosozialen Problemen» statt. Die nachstehende Grafik verdeutlicht die Spannungsfelder, in denen sich Professionelle der Sozialen Beratung bewegen (vgl. Abplanalp/Cruceli/Disler/Pulver/Zwilling 2020: 29).
Beratende und Ratsuchende bewegen sich in der Praxis zumeist zeitgleich auf den verschiedenen Ebenen (z.B. ein Klient möchte Informationen zu einer Schuldensanierung erhalten und im Gespräch zeigt sich, dass ein Suchtthema vorliegt, das im Zusammenhang mit der finanziellen Situation des Klienten steht). Ein/e Professionelle/r der Sozialen Arbeit muss sich also in ihrer/seiner Funktion im Sinne der Klientin/des Klienten in allen vier Quadranten bewegen können (Abplanalp et al. 2020: 30).
Die Beratungsfunktionen Schutz und Kontrolle (Fürsorge) sowie die Stabilisierung bzw. Betreuung und Begleitung nach dem Modell von Weber und Kunz sind beides gesetzliche Massnahmen und somit von Unfreiwilligkeit geprägt. Das grafische Modell macht deutlich, dass sich berufliches Handeln gleichzeitig in einem institutionell-rechtlichen Rahmen bewegt und Klientinnen und Klienten ebenso in ihren jeweiligen Lebenswelten erreichen soll. Dieser staatliche Auftrag ist in der Praxis jedoch mit den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten Sozialer Arbeit nicht immer in Einklang zu bringen. Das hieraus resultierende Spannungsfeld bezeichnet das sog. «Doppelte Mandat» (vgl. Abplanalp et al. 2020: 30).
Heiko Kleve (2007) beschreibt die Hilfe- und Kontrollfunktion der Sozialen Arbeit im Spannungsfeld der verschiedenen Ansprüche und Erwartungen der Gesellschaft.
Einerseits ist professionelle Hilfe seitens der Klientel gefordert, andererseits steht eine gesellschaftliche Erwartung im Raum, eine Kontrollfunktion über Menschen wahrzunehmen, die sich normativen Grundsätzen nicht beugen können oder wollen. Allein die beiden Pole «Hilfe» und «Kontrolle» stellen laut Kleve eine Ambivalenz im Tätigkeitsfeld von Sozialarbeitenden dar. Denn: Soziale Arbeit läuft zugleich darauf hinaus, zu helfen und nicht zu helfen (vgl. Kleve 2007: 20). Mit der professionellen Hilfe geht die Gefahr einher, die Klientinnen und Klienten durch Hilfe abhängiger und hilfloser zu machen als sie es vor der Hilfe waren. Laut Kleve (2007: 20) «(…) beginnt jede professionelle Hilfe nur, um so schnell als möglich wieder beendet zu werden, um wieder in Nichthilfe übergehen zu können; denn erst die Möglichkeit dieses Übergangs offenbart den Erfolg der Hilfe.»
Es muss von Beginn weg das Ziel sein, Hilfe in Nichthilfe übergehen zu lassen. Diesen Grundsatz stützt auch der klassische Grundsatz der Sozialen Arbeit der «Hilfe zur Selbsthilfe». Mit der Tatsache, dass die Soziale Arbeit als System abhängig von ihren Klientinnen und Klienten ist, geht die Tendenz einher, als Professionelle der Sozialen Arbeit Hilfe länger als nötig anzubieten und so das Ziel der Nichthilfe zu verfehlen oder hinauszuzögern (vgl. ebd.: 34).
Abschliessend kann festgehalten werden, dass die Soziale Arbeit seit ihrer Entwicklung zur Profession zum Ende des 19. bzw. zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine Praxis ist, die zahlreiche, strukturelle Ambivalenzen in sich trägt (vgl. ebd.: 43). Diese widersprüchlichen Handlungsstrukturen und gegensätzliche sozialen Erwartungen stellen sich als Dilemma dar und können bei Sozialarbeitenden ambivalente Gefühle bzw. ein Hin- und Hergerissensein auslösen (vgl. ebd.: 43). Dies liegt in der Tatsache, dass Professionelle der Sozialen Arbeit zwischen unterschiedlichen Stühlen stehen und aufgefordert sind, gegensätzliche, zum Teil sogar widersprüchliche soziale Erwartungen zu erfüllen. Für Professionelle der Sozialen Arbeit geht es darum, einen Weg zu finden, diese vorhandenen Ambivalenzen aushalten und konstruktiv managen zu können (vgl. ebd.: 43).
Hilfe annehmen muss gewollt sein / Psychologische Reaktanz / Selbstwirksamkeit
Lindenberg und Lutz (2012: 51) zitieren Alice Salomon, welche den Grundsatz vertritt, dass Hilfe nur «unter der Voraussetzung möglich ist, dass der Betreffende die Hilfe wünscht.» Weiter sagt Salomon:
«Niemand kann für einen anderen leben oder sterben. Niemand kann auch für einen anderen Menschen die Anpassung an die Lebensumstände vornehmen, oder eine einzige Gewohnheit des anderen ändern. Niemand kann einen anderen dadurch stark machen, dass er für diesen arbeitet, niemand kann ihn dadurch zum Denken veranlassen, dass er für den anderen denkt.» (ebd.: 51)
Laut Salomon führt es zu einer Verstümmelung eines Menschen, wenn dieser nicht für sich selbst sorgen und einstehen kann. Wenn Menschen nicht selbst das als Notstand sehen, was von Seiten der Expertinnen oder Experten als Notstand gesehen wird, ist jede Unterstützung vergebens. Was ein Mensch für sich selbst erarbeitet, erreicht und tut, hat ganz andere Wirkung für das Wohlergehen als alles, was für ihn getan werden kann (vgl. ebd. S. 86).
Selbstwirksamkeit kann sich bei einer Person also dann entfalten, wenn Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten vorhanden sind. Dies im Hinblick auf die zu bewältigenden Herausforderungen und der vorhandenen Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Selbstwirksamkeit impliziert, dass ein/eine PSA einer Klientin oder einem Klienten die Kompetenz zuschreibt, mittels eigenem Handeln Veränderungen (mit-)bewirken zu können (vgl. Grossmann 2005: 363). Wenn sich Klientinnen und Klienten mit Mitteln und Strategien verbunden sehen, die es ihnen erlauben, Problemlösungen zu entwickeln, entfaltet sich Selbstwirksamkeit (vgl. ebd.: 365).
Gemäss Jean Piaget (zit. nach Niemann 2003: o.S.) ist jeder Mensch für die Herstellung eines optimalen Gleichgewichts bzw. einer Stabilisierung der eigenen Identität immer wieder mit Regulierungsprozessen seines Organismus beschäftigt: Mit der Assimilation (Umwelt soll sich dem Organismus anpassen) und der Akkomodation (ich passe den Organismus der Umwelt an). Jedoch ist festzuhalten, dass Akkomodation erst dann stattfindet, wenn die Assimilation zwecks Situationsverbesserung nicht (mehr) greift (vgl. Birkelbach und Meulemann 2017: 78).
In diesem Zusammenhang ist ergänzend die Theorie der Psychologischen Reaktanz ins Feld zu führen. Diese basiert auf der Annahme, dass Menschen es in hohem Masse schätzen, selbst entscheiden zu können (vgl. Arnold 2015: 83). Eine Einengung dieses Handlungsspielraums löst eine Erregung/Abwehrhaltung (Reaktanz) aus, die darauf abzielt, diesen als unangenehm empfundenen Zustand zwischen Einengung und Wiederherstellung der Freiheit zu beseitigen (vgl. ebd.: 84).
Mit Blick auf die Autonomie von Klientinnen und Klienten kann gesagt werden, dass alle sozialarbeiterischen Strategien erfolgsfördernd sind, die versuchen, die Autonomie psychischer und sozialer Systeme zu akzeptieren und zu stützen. Eine wichtige Fähigkeit dabei ist es, Unbestimmtheiten auszuhalten im Gegensatz zur Absicht (auch wenn diese zur Vermeidung von Selbst- und Fremdgefährdung angebracht ist), für eine Klientin/einen Klienten Entscheidungen treffen zu wollen, die letztlich nur von diesen selbst getroffen werden können. Professionelle der Sozialen Arbeit haben weiter die Aufgabe, KlientInnen immer wieder – zum Teil penetrant – dazu zu ermuntern, eigene, konkrete Zielvorstellungen zu formulieren und konkrete Wege zu formulieren, wie diese Ziele mit welcher Unterstützung erreicht werden können. Eine weitere wichtige Fähigkeit ist es, Klientinnen und Klienten dort zu stärken, wo sie sich als veränderungsbereit und veränderungsfähig sehen. KlientInnen sollen als Kooperationspartner betrachtet werden, die potenziell wissen, was sie brauchen, wollen und welcher Weg für sie der richtige ist (vgl. Kleve 2007: 91-93).
RELATIONIERUNG
Warum fühlt sich die PSA im Gespräch so «zerrissen» zwischen ‘Wahrung der Selbstwirksamkeit’ des Klienten und der angestrebten Hilfestellung im Sinne der Fürsorge inkl. der Wahrung des gesetzlichen Rahmens?
Die PSA hat im gesetzlichen Auftrag als Bewährungshelferin gehandelt mit dem Ziel, eine weitere Delinquenz des Klienten zu verhindern und andererseits hat sie in ihrem Auftrag als Sozialarbeiterin gewirkt, den Schutz und die Fürsorge für den Klienten zu wahren. Die PSA steht auf der einen Seite also zwischen dem professionellen Auftrag und auf der anderen Seite zwischen dem spürbaren Wunsch des Klienten, seinen eigenen Weg zu gehen. Damit befindet sie sich im klassischen Dilemma des Doppelmandats.
Mit der Erfüllung des gesetzlichen Auftrags und dem Druck, den die PSA damit auf den Klienten ausübt, ist die Macht (mindestens im Unterbewusstsein) präsent. Die Machtthematik scheint aber vordergründig ausgeblendet, weil es nicht der Wertehaltung der PSA entspricht, Macht anzuwenden und weil die Soziale Arbeit auf Kollaboration, Kooperation und das Wahren der Selbstwirksamkeit, das Ermächtigen (nicht Entmächtigen!) von Klientinnen und Klienten ausgerichtet ist. Dies ist eine Erklärung für die Ambivalenz.
Widersprüche in den sozialen Erwartungen der diversen Ebenen im Triple-Mandat (Hilfe/Kontrolle/Berufsethik) und die damit verbundenen Ambivalenzen sind eine strukturelle Eigenheit der Profession der Sozialen Arbeit. Zu wissen, dass die gefühlte «Dilemma-Situation» bzw. das Gefühl des Hin- und Hergerissenseins eine Eigenheit der Profession der Sozialen Arbeit ist und nicht zwingend der Handlungsweise der PSA zugeordnet werden muss, kann der PSA helfen, besser mit solchen und ähnlichen Situationen umzugehen. Das Wissen kann der PSA zudem helfen, in zukünftigen Situationen bereits früher eine professionelle Distanz einzunehmen, sodass sie die erlebte Hilflosigkeit/Ohnmacht besser einordnen und weitere Dilemma-Situationen konstruktiv managen kann.
Laut Alice Salomon ist Hilfe nur möglich unter der Voraussetzung, dass der oder die betreffende Person die Hilfe auch wünscht. In der Schlüssel-Situation ist spürbar, dass der Klient die Hilfe der PSA nicht (oder noch nicht) annehmen kann. Die Vermutung liegt nahe, dass der Klient in seinem inneren Prozess noch nicht am Punkt ist, wo er bereit dazu ist. Er scheint in dem Moment das persönliche Risiko nicht oder nicht in derselben Dringlichkeit zu sehen, wie die PSA dies tut (Gesetzesverstoss infolge Nicht-Versicherung bei der Krankenkasse und Gefährdung der Gesundheit des Klienten). Es kann aber auch sein, dass der nicht bewusst ausgeübte Druck auf den Klienten seitens der PSA für die Wiedererlangung einer Krankenversicherung bei ihm ein starkes Gefühl der Einengung seiner Entscheidungsfreiheit ausgelöst hat und das Gefühl mit jedem Schritt, den die PSA in Richtung ‘Abschluss neue Krankenversicherung’ getan hat, stärker wurde.
So lange es Gründe gibt, die den Klienten hindern, den von der PSA vorgeschlagenen Weg zu wählen, ist jede Intention seitens der PSA vergebens, den Klienten zum gewünschten Schritt zu bringen.
Es liegt in der Natur des Menschen, in seiner Lebensgestaltung selbstwirksam zu sein, Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten selbst zu bestimmen. In der Schlüsselsituation fühlt sich der Klient fremdgesteuert und überrollt. Er kann sich nicht entschliessen, den Vorschlag der PSA anzunehmen, was sie spürt und was bei ihr ein Gefühl der Hilflosigkeit auslöst.
Die gute Arbeitsbeziehung, die die PSA zum Klienten aufgebaut hat, ist ein guter Boden, um das gewünschte Anliegen der PSA umzusetzen bzw. dafür, dass der Klient Hilfe (besonders im Zwangskontext) überhaupt annehmen kann. Es kann der PSA jedoch helfen, bei einem spürbaren Widerstand, den Gründen auf die Spur zu gehen; im vorliegenden Fall möglicherweise, dass der Klient in Sachen Verhaltensänderungsprozess durch den Druck der PSA seine Selbstwirksamkeit nicht wahrnehmen konnte und dadurch im Prozess stecken geblieben ist. Das Bewusstsein, dass der Klient mehr Zeit braucht, um sich auf ihren Vorschlag einlassen zu können, kann der PSA helfen, besser auf den Klienten einzugehen, ihn dort abzuholen, wo er ist und mit ihm gemeinsam die weiteren Schritte zu machen. Möglicherweise bedeutet das, dass die PSA paar Schritte zurückgehen muss, das angestrebte Tempo nicht halten kann. Für den Erfolg der Sache und den Erhalt der guten Beziehung zum Klienten ist es jedoch wichtig.
Die kurze Pause, die entstanden ist, als die PSA sich bei ihrer PA zum weiteren Vorgehen absichern wollte, hat scheinbar geholfen, den inneren Prozess des Klienten voranzutreiben. Auch wenn die Pause für ihn mehr zufällig als von der PSA bewusst gesteuert entstanden ist, so hat er in dieser Pause dennoch einen für ihn wichtigen Schritt in der Verhaltensänderung im Sinne der Akkomodation machen können und sich – nach Rückkehr der PSA ins Gespräch – relativ rasch auf ihren Vorschlag einlassen können. Mit dem Prozess des anfänglichen Widerstands und der danach erfolgten Verhaltensänderung hat der Klient seine Selbstwirksamkeit und Handlungsfreiheit wieder erlangt, indem er – ohne das Drängen der PSA, die ab diesem Zeitpunkt keinen Druck mehr aufgebaut hat – seine Entscheidung zur Kooperation selbst getroffen hat. Erkenntnisse, die für die PSA nebst der Wichtigkeit der Selbstwirksamkeit aus dem Fall gezogen werden können:
- Die Anpassung von kognitiven Prozessen braucht Zeit.
- Gefühle von Verärgerung, Hilflosigkeit und Unverständnis können mit der gleichzeitigen Wiederherstellung der Handlungsfreiheit/Abbau der Reaktanz von Klienten verbunden sein und dürfen nicht als persönliche Niederlage seitens der PSA gewertet werden oder als ein «Nicht schätzen» ihrer Anstrengungen.
5.2 Interventionswissen – Wie kann ich als professionelle Fachperson handeln?
Wie kann die PSA den Klienten motivieren, den rechtlich korrekten Weg einzuschlagen und für eine Verhaltensänderung gewinnen?
Motivierende Gesprächsführung (MI)
Die motivierende Gesprächsführung fusst auf der klientenzentrierten Psychotherapie von Carl Rogers. An dieser Grundhaltung wurden in der motivierenden Gesprächsführung allerdings entscheidende Veränderungen vorgenommen (vgl. Klug und Zobrist 2016: 59). Während Rogers seine Therapieform als nondirektiv bezeichnet, verfolgt die motivierende Gesprächsführung bestimmte Ziele und ist damit eine direktive Methode (vgl. ebd.: 68). Ein wichtiges Modell vor dem Hintergrund der motivierenden Gesprächsführung ist das Transtheoretische Modell von Prochaska (Prochaska et al. 1994). Dieses beschreibt den von Interventionen begleitete Prozess der Verhaltensänderung in sechs aufeinander aufbauenden Stufen, welche weiter unter genauer beschrieben sind.
Miller und Rollnick haben das MI vor allem im Kontext der Suchtbehandlung entwickelt und gehen in ihren Arbeiten von der Betrachtung einer ambivalenten Situation aus (vgl. Miller und Rollnick 2015: 23). Die motivierende Gesprächsführung kann definiert werden als «eine klientenzentrierte, direktive Methode zur Verbesserung der intrinsischen Motivation für eine Veränderung mittels der Erforschung und Auflösung von Ambivalenz» (Miller/Rollnick 2015: 47). Es geht also erst einmal ausschliesslich um das Verstehen der Ambivalenz. Hier liegt eine erste wichtige Ausrichtung der motivierenden Gesprächsführung oder motivational Interviewing (MI): Als behandelnde Person untersucht man mit der Klientin oder dem Klienten gemeinsam ihre oder seine Ambivalenz, ohne sich dazu verleiten zu lassen, argumentativ auf eine der Seiten der Waage zu springen! Denn Letzteres wäre eine Parteinahme, die das Klientel fast automatisch dazu veranlassen wird, auf die andere Seite der Waage zu springen, was jede Entwicklung blockiert.
Hiermit wird auch deutlich, dass es nicht die behandelnde Person ist, die festzulegen hat, in welche Richtung die Entwicklung zu gehen hat. Das MI geht davon aus, dass es weder möglich noch sinnvoll ist, eine Veränderung anzustreben, die im Widerspruch zu den persönlichen Werten und Normen des Klientels steht. Die einzuschlagende Richtung hinaus aus der Ambivalenz kann immer nur von der Klientel selbst kommen, die behandelnde Person kann diese nur dabei unterstützen, selber zu erkennen, welche Seite der Waagschale, die für ihr Leben passendere ist (vgl. A. Noyon, T. Heidenreich 2020: 79). In diesem Sinne wurzelt das MI in seiner Grundhaltung der Klientel gegenüber in Rogers klientenzentrierter Psychotherapie, fokussiert aber direktiv auf die Untersuchung der Ambivalenz und strebt an, dass Klientinnen und Klienten selbst ihren Weg finden. Aus einem erfolgreichen MI resultiert also, dass die Klientel selbst die Argumente für Veränderung präsentieren und damit selbst in den sogenannten «Change Talk» kommen.
Die personenzentrierte Grundhaltung von Carl Rogers beruht auf seinem humanistischen Menschenbild und brachte die klientenzentrierte Psychotherapie hervor. Diese ist im Gegensatz zur motivierenden Gesprächsführung nondirektiv. Rogers geht davon aus, dass alle Menschen eine Tendenz zur Selbstaktualisierung haben. Das heisst sie streben danach, heil und gesund sowie kongruent mit sich und der Umwelt zu sein (vgl. Rogers 1976).
Menschen, die eine Erfahrung von Inkongruenz zwischen Innenwelt und Aussenwelt gemacht haben, brauchen nach Rogers eine «äussere Atmosphäre der empathischen Annahme ihres Selbst». Diese «äussere Atmosphäre der empathischen Annahme» wird durch aktives Zuhören und dem Versuch geschaffen, die Klientinnen und Klienten uneingeschränkt aus ihrer Sicht zu verstehen. Diese Atmosphäre entsteht nach Rogers durch drei wesentliche Merkmale:
- Kongruenz
- Empathie
- Wertschätzung und bedingungslose Akzeptanz
Bei letzterem werden allerdings nicht die Taten der Klientel bedingungslos akzeptiert, sondern die Personen selbst. Die Akzeptanz basiert auf dem Vertrauen darauf, dass die Klientinnen und Klienten die Fähigkeit haben sich zu verändern. Für Rogers ist die Beziehung zu der Klientel das anstossende Mittel zur Heilung (vgl. Rogers 1976b: 200, zit. Nach Klug und Zobrist, 2016: 67f).
Das Transtheoretische Modell (TTM)
Das TTM nach Prochaska et al. beschreibt den Prozess der Verhaltensänderung in sechs aufeinander aufbauenden Stufen. Nach diesem Modell ist Veränderung also ein Prozess, «der zeitlich und inhaltlich aufeinander aufbauende Stufen der Verhaltensänderung (stages of change) durchläuft» (vgl. Klug und Zobrist, 2016: 41).
1.Stufe: Absichtslosigkeit
Menschen, die sich auf dieser Stufe befinden, denken nicht oder kaum über eine Verhaltensänderung in den nächsten 6 Monaten nach, obwohl ein Veränderungsbedarf zu erkennen ist. Sie bleiben in dieser Stufe, weil sie die Konsequenzen ihres Verhaltens nicht gut einschätzen können oder sie entmutigt sind. Sie vermeiden es mit dem hohen Risiko ihres Verhaltens konfrontiert zu werden. Schlussendlich neigen Menschen auf dieser Stufe dazu die Vorteile eine Veränderung zu unter- sowie den dazu benötigten Aufwand zu überschätzen (vgl. Prochaska/Levesque, 2002).
2.Stufe: Absichtsbildung oder Nachdenklichkeit
Auf dieser Stufe geschieht eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Problem und dessen Risiken und Gefahren. Es folgen aber noch keine Handlungen und Massnahmen zur Verhaltensänderung. Trotz des vorhandenen Problembewusstseins verspüren die Personen auf dieser Stufe eine Ambivalenz gegenüber Verhaltensänderungen. Es besteht zwar das Vorhaben sich in den nächsten sechs Monaten zu verändern, es werden aber keine konkreten Handlungen begonnen (vgl. Klug und Zobrist, 2016: 42).
3.Stufe: Vorbereitung
Personen in diesem Stadium sehen die Vorteile eine Veränderung, erstellen konkrete Pläne und wollen innerhalb des nächsten Monats handeln. Diese Stufe ist eine Durchgangsphase die ca. 30 Tage anhält, denn irgendwann müssen die Pläne in die Tat umgesetzt werden oder auch nicht. Dies hängt davon ab, ob sich die Person die notwendige Veränderung zutraut oder nicht (vgl. ebd.: 42).
4.Stufe: Handlungsstadium
Hier werden beobachtbare Veränderungen im Lebenswandel vollzogen. Die o.g. Pläne werden durchgeführt. Dafür werden mitunter sogar Mühen und Schwierigkeiten auf sich genommen. Das Verhalten der Person zielt auf Selbstveränderung ab (vgl. ebd.: 43).
5.Stufe: Aufrechterhaltung
In dieser Stufe wird daran gearbeitet einen Rückfall zu verhindern und die Veränderten Aspekte zu erhalten. Es kommen weniger neue Veränderungsprozesse dazu. Die Personen glauben zunehmend daran, die Veränderungen erhalten zu können. Auf dieser Stufe bleiben die Personen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. Vereinzelt kann sie aber auch ein ganzes Leben andauern (vgl. Klug und Zobrist, 2016: 43).
6.Stufe: Ausstieg
In diesem letzten Stadium sind die Personen zuversichtlich und verspüren auch keinen Drang mehr, selbst unter Belastung, in die früheren, schädlichen Muster zurückzufallen (vgl. Prochaska/Levesque: 2002).
In der Beratung ist es zentral, dass die Beratungsperson ihre Intervention auf die Stufe ausrichtet, auf der die Klientinnen und Klienten sich gerade befinden. Dazu muss die Beratungsperson einschätzen können auf welcher Stufe sich diese gerade befinden, die Eigenschaften dieser jeweiligen Stufe kennen und die Interventionen dementsprechend anpassen. In Bezugnahme auf Keller et al. schreiben Klug und Zobrist, dass für eine erfolgreiche Verhaltensänderung, das Durchlaufen aller Stufen und das Umsetzen der jeweiligen Verhaltensprozesse essenziell ist, «da ansonsten das Risiko für Rückfälle in ungünstige Verhaltensgewohnheiten deutlich erhöht ist.» (vgl. Klug und Zobrist 2016: 44).
Wichtige Basisprinzipien des MI
Empathie zeigen
Nach der personenzentrierten Therapie von Carl Rogers sollte die beratende Person sich bemühen, die Ambivalenz der Klientel «von innen» zu verstehen, dies reflektieren und auf Bewertungen, Kritik o. ä. verzichten. Es geht um echte Akzeptanz und nicht nur um Befürwortung. Denn genau solch eine Haltung des Akzeptierens der Person, so wie sie ist, setzt diese für Veränderung frei (vgl. A. Noyon, T. Heidenreich 2020: 80).
Diskrepanz entwickeln
Um Motivation zu entwickeln, ist es notwendig, dass die Klientel eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand wahrnehmen. Dazu müssen mit der Klientel ihre persönlichen Werte und Ziele untersucht und geklärt werden, damit sie sie in Zusammenhang mit ihrem Ambivalenzkonflikt bringen können. Aus dieser Diskrepanz kann schließlich ein stärkerer Veränderungswunsch entstehen (vgl. ebd.: 80).
Mit dem Widerstand gehen
Die ungünstigste Situation ist dann gegeben, wenn die behandelnde Person Argumente für Veränderung auffährt und die Klientel sich mit Gegenargumenten verteidigen. Zeigen Klienten Widerstand, so ist das in der Philosophie des MI ein Signal für die behandelnde Person, die eigene Position zu verändern (also nicht von der eigenen «richtigen» Position aus weiter zu argumentieren). Beispiel: Ein Klient ist ambivalent in Bezug auf die Frage, ob er mit dem Rauchen aufhören soll. Er argumentiert mit den Vorteilen, die er im Rauchen sieht. Dem automatischen Korrektur- und Überzeugungsreflex folgend würde eine beratende Person nun möglicherweise beginnen, Gegenargumente aufzufahren und damit wahrscheinlich mitten in den Widerstand des Klienten hineinlaufen. Eine am MI orientierte beratende Person würde stattdessen mit dem Widerstand gehen «roll with resistance») und Verständnis für die Argumentation des Klienten zeigen. Paradoxerweise sind es nach solch einem «mit dem Widerstand gehen» in der Regel die Klientinnen und Klienten, die dann den Change Talk beginnen (Der Klient bringt Argumente gegen das Rauchen). Wichtiges Zwischenziel des MI: Die Klientel soll «Change Talk» zeigen, nicht die behandelnden Personen (vgl. ebd.: 80).
Selbstwirksamkeit fördern
Die bisherigen drei Prinzipien können dabei helfen, dass die Klientel erkennt, dass sie ein relevantes Problem hat und eine Veränderung herbeiführen sollte. Ohne die Überzeugung, diese Veränderung auch leisten zu können, ist das jedoch nichts wert. Deshalb bemüht sich das MI auch darum, die Selbstwirksamkeit der Klientel zu unterstreichen, aufzubauen und zu fördern (vgl. ebd.: 81).
Empfehlungen, die für die Gesprächspraxis mit ambivalenten Personen förderlich sind:
Vermeidung der Expertenrolle
Beim Untersuchen von Ambivalenzen ist es ungünstig, wenn sich die behandelnde Person als jemand anbietet, der «alle Antworten hat» und die Klientel zu belehren versucht. Das führt häufig zu Widerstand (vgl. ebd.: 81).
Übereilung
Meistens kommt man in Beratungen und Therapien dann am besten voran, wenn man am langsamsten geht. In Bezugnahme auf Roberts kann es laut Noyon und Heidenreich «Mitunter (…) den ganzen Tag dauern, etwas Bestimmtes zu erreichen, wenn man sich so verhält, als hätte man nur ein paar Minuten. Umgekehrt dauert es nur ein paar Minuten, wenn man so handelt, als hätte man den ganzen Tag.» Also: Langsam-Machen! (vgl. ebd.: 81)
Die wichtigste «Falle» Parteilichkeit
Argumentieren ist keine geeignete Strategie, Veränderung herbeizuführen. Deshalb sollte das Auffahren von Argumenten «pro change» vermieden werden, denn das wird die Klientel wahrscheinlich vor allem dazu veranlassen «No problem»-Aussagen zu bringen (vgl. ebd.: 81).
Offene Fragen stellen
Mit geschlossenen Fragen («Ja»/«Nein»- Fragen), die der Klientel wenig Antwortspielraum lassen, geht häufig die Gefahr einher, dass bereits eine Seite der Ambivalenz betont wird. Offene Fragen ermöglichen eine tiefere Exploration, während geschlossene Fragen in der Regel nur kurze Antworten erfordern (vgl. Ebd. 81f).
Transparenter Umgang mit zweifelhafter Motivation
Ein Königsweg der Bearbeitung liegt häufig darin, das Problem offen anzusprechen und gemeinsam mit der Klientel eine Lösung zu finden. Wenn das nicht möglich ist, dann sollte auch das klar thematisiert werden, denn ohne Ziele funktioniert Beratung nicht. Schliesslich ist es wichtig, nicht zu viel Verantwortung für den Prozess zu übernehmen. Gerade unmotivierte Klientel lösen bei den PSA häufig die Vorstellung aus, dass sie «schuld» sind und doch nur auf die richtige «therapeutische/beraterische Idee» kommen müssten. Für die Psychohygiene der PSA ist es wichtig zu akzeptieren, dass es Klientinnen und Klienten gibt, die auch trotz perfekter Motivationsarbeit keine Veränderungsmotivation aufbauen werden (vgl. ebd.: 82).
Lösungsorientierte Gesprächsführung
Das Lösungsorientierte Coaching wurde in Milwaukee unter anderem von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg mit dem Ziel entwickelt, eine effektive und effiziente Beratungsform zu finden. Dabei gingen sie nicht zuerst von einer Theorie aus, sondern von ihren Beobachtungen des Hilfreichen in tatsächlichen Beratungsgesprächen. Im lösungsorientierten Ansatz wird nicht auf das Problem oder auf das fokussiert, was dem Menschen fehlt, sondern darauf, auf welche Art und Weise die Personen zu ihren Lösungen kommen (vgl. Szabó und Berg 2019: 19). Die Milwaukee-Gruppe sieht die Sprache als zentrales Instrument in der Lösungsfindung an. Denn durch Sprache kann die Klientel zu neuen Ideen, Bildern und so zu Zielen und Lösungen kommen. Dabei schafft das detaillierte Sprechen über Probleme negative Gefühle wie Beunruhigung und Überwältigung, während das Sprechen über positives wie Ziele, Wünsche und Hoffnung eben hoffnungsvolle, positive Gefühle erzeugt (vgl. ebd.: 20). So zitieren Szabó und Berg, Steve de Shazers Aussage «Problem-Sprache schafft Probleme – Lösungssprache schafft Lösungen» und weisen damit auf die von Furman und Ahola 1992 geprägten Begriffe «Solution talk» und «Problem talk» hin (vgl. ebd.: 20).
Für die Arbeit mit Klientinnen und Klienten im Zwangskontext empfehlen Szabó und Berg an den «echten und eigentlichen Anliegen der KlientInnen» zu arbeiten, was eine Zusammenarbeit erleichtert und ermöglicht (vgl. ebd.: 138). Auf die Gewährleistung von Vertraulichkeit ist hierbei besonders zu achten. In Zwangskontexten gehört es in den meisten Fällen dazu, dass Informationen über die Klientel an Dritte weitergegeben werden müssen. So empfiehlt es sich, zu Beginn zu klären, welche Informationen weitergegeben werden müssen, diese wenn möglich im Sinne der Klientel zu verhandeln und auf ein Minimum zu beschränken. Die Informationen, die dennoch weitergegeben werden müssen, gilt es, der Klientel transparent zu machen. So kann auch ein gewisser Grad an Vertraulichkeit entstehen (vgl. ebd.: 138f). Weiterhin ist es wichtig, eventuelle Vorannahmen über Klientel im Zwangskontext oder Informationen, die man im Vornhinein über sie erfährt zu überprüfen und sich nicht von diesen leiten zu lassen (vgl. ebd.: 139). Als dritten Aspekt ist zu nennen, dass sich die Beratungsperson zunächst für die Klientel interessieren und sich mit dieser verbinden sollte, bevor sie sich deren Problemen zuwendet.
«Finden Sie etwas über die Interessen, Kompetenzen, Fertigkeiten, Erfolge der KlientIn heraus, auf die sie stolz ist, und die Ihnen
erlauben, sich ein eigenes Bild zu machen.» (vgl. ebd.: 139)
Zentral ist es, diese Fertigkeiten und Erfolge ehrlich anzuerkennen und gemeinsam mit der Klientel nach Möglichkeiten zu suchen, diese Erfolge wieder oder sogar neue Erfolge zu erreichen (vgl. ebd. 145). Weiterhin ist es gerade im Zwangskontext wichtig, zu berücksichtigen, dass man niemanden zwingen kann, sich zu verändern und dass es daher umso wichtiger ist, der Klientel zuzuhören und herauszufinden, was dieser wichtig ist, welche Ziele sie selbst hat oder haben könnte (vgl. ebd. 140). Mit dem nun gesammelten Wissen über Kompetenzen oder auch darüber, was der Klientel wichtig ist, kann die Beratungsperson weitere, zielführende Fähigkeiten gemeinsam mit der Klientel aufbauen, anstatt «unerwünschte Eigenschaften zu beseitigen» (vgl. ebd. 141). Wenn der Klientel das Ziel wichtig ist, wird sie auch eher intrinsische Motivation entwickeln und diese dafür einsetzen, Veränderungen herbeizuführen, um das Ziel zu erreichen.
«Doch unsere Erfahrung zeigt, dass «unfreiwillige» KlientInnen
genauso bereit sind, ihre eigenen Wünsche zu verwirklichen, wie alle anderen, wenn sie nur respektiert und in dem wertgeschätzt werden, was ihnen wichtig ist und was sie können.» (vgl. ebd. 146)
In einem lösungsorientierten Gespräch wird der Blick im Anschluss an die Situationsanalyse auf Wünsche, Ziele, Ressourcen, Fähigkeiten und Schritte zur Veränderung gerichtet. Hierbei werden Probleme nur wenn unbedingt nötig in den Blick genommen. Nach de Shazer (2018: 12f) ist es für den Erfolg von Gesprächen nicht nötig, Probleme zu lösen, denn Probleme und Lösungen haben oft nur einen losen Zusammenhang. Hiernach sind Lösungen auch ohne tiefe Kenntnis der Probleme erreichbar. Vielmehr richtet der lösungsorientierte Ansatz den Blick auf Ausnahmen in problematischen Situationen oder Lebenslagen. Die Klientinnen und Klienten werden in ihren Entwicklungswünschen bestärkt und ihre Selbstwirksamkeit wird gefördert. Der Blick wird auf die Verwirklichung von Anliegen und auf bereits im Ansatz vorhandene, aber zu wenig wahrgenommene, Lösungswege gerichtet. Hierzu sind die Wertschätzung und Achtung vor der Autonomie der Klientel zu wahren. Eine neugierige und «nicht-wissende» Haltung der Klientel gegenüber sowie ein pragmatisches und theoretisch sparsames Vorgehen sind zentral für die Umsetzung des lösungsorientieren Ansatzes. Dies widerspiegelt sich auch in der Sprache der Beratungsperson, wodurch offene Fragen, Hypothesen, Gedankenexperimente und Einladungen zum Mitdenken immer wieder Anwendung finden. Zentral ist ebenfalls eine echte Anerkennung als Reaktion auf die Klientel (vgl. ebd.: 13).
Der Radikale Konstruktivismus dient als Erkenntnismodell des lösungsorientieren Ansatzes. Nach diesem gibt es keine objektive Wahrheit und die subjektiven Wirklichkeiten werden durch Denken, Handeln und vor allem durch Sprache konstituiert (vgl. Widulle 2020: 127). Wenn Wirklichkeit also durch Sprache geschaffen wird, kann sie auch durch diese verändert werden. So werden die Sichtweisen der Klientel positiv konnotiert. Negativ erscheinende Verhaltensweisen werden als positive, sinnvolle Bewältigungsversuche umgedeutet und negative Sprachmuster werden vermieden. Dem lösungsorientierten Ansatz liegt ein positives, ressourcenorientiertes Menschenbild zugrunde. Menschen handeln demnach nicht aus Bosheit, sondern ihr Verhalten ist jeweils der subjektiv in diesem Moment beste Lösungsversuch für ein Problem, auch wenn dies von der Aussensicht her schwer nachvollziehbar erscheint (vgl. Widulle 2020: 125 ff.). Zudem wird der Sinn des Verhaltens der Klientel nicht in der Vergangenheit, sondern im aktuellen Kontext gesucht, denn nach Widulle (2020: 127) ergibt Verhalten «nur in seinem Kontext einen Sinn».
Die lösungsorientierte Gesprächsführung beinhaltet folgende Techniken:
Lösungsorientiere Fragen
Fragen nach den Ressourcen, Lösungen und Kompetenzen der Klientel. Sie werden weder offen noch geschlossen gestellt, sondern fragen nach Bewältigungsstrategien (vgl. Widulle 2020: 129).
- Einstiegsfragen: Die PSA fragt die Klientel nach ihrem persönlichen Ziel des Gesprächs bzw. danach was Inhalt und Ausgang des Gesprächs sein sollte, damit es sich für die Klientel gelohnt hat.
- Überlebensfragen: Die PSA fragt die Klientel nach den Ressourcen oder Kompetenzen, die sie nutzen, um sehr schwere Situationen überhaupt auszuhalten.
- Zirkuläre Fragen: Die PSA fragt die Klientel danach, wie wohl die Sichtweise einer bedeutsamen dritten Person auf die Klientel wäre und bringen damit z.B. festgefahrene Selbstbilder ins Wanken.
Ehrliche Anerkennung
Ehrliche Anerkennung wird der Klientel durch indirekte Komplimente und wertschätzende Rückmeldungen vermittelt. Die PSA muss selbst von diesen ehrlich überzeugt sein und das Kompliment sollte eine direkte Verbindung zur Lösung des Problems aufzeigen (vgl. Rogers 1976b: 200).
Positives Umdeuten (Reframing)
Erlebnisse, Gefühle oder Gedanken werden umgedeutet, so dass sie eine «veränderungswirksame Interpretation» bekommen können und schliesslich neue Empfindungen und Handlungen entstehen können (vgl. Widulle 2020: 130).
Skalierungsfragen
«Auf eine Skala von 1 bis 10, wo befinden Sie sich heute?». Nach diesem Prinzip werden Selbsteinschätzungen abgefragt und einem Schwarz-weiss-Denken entgegengewirkt. Auf diese Weise können Klientinnen und Klienten kleine Schritte und Veränderungen auf dem Weg zur Lösung konkret erkennen und ihren eigenen Einfluss darauf wahrnehmen (vgl. ebd.: 130).
Die Wunderfrage
Die Klientel wird danach gefragt, wie ihre Welt aussähe, wenn Problem X auf einmal nicht mehr da bzw. der erwünschte Zustand erreicht wäre. Hierdurch werden, durch möglichst konkrete Bilder, eine Zielvision erschaffen, von der dann kleine erreichbarere Ziele abgeleitet werden können (vgl. ebd.: 130).
Gedankenexperimente
Die PSA fordert die Klientel dazu auf, Alternativen zu ihrem üblichen Handeln gedanklich durchzugehen. Damit sollen Handlungsspielräume aufgezeigt und andere Verhaltensmöglichkeiten angeregt werden (vgl. ebd.: 130).
Hausaufgaben
Hausaufgaben können der Klientel als Auftrag mit nach Hause gegeben werden. Es gibt Aufgaben, die mit aufrichtiger Haltung von der PSA erteilt werden, aber auch welche mit paradoxer Absicht. Diese haben z.B. das Ziel, kleine Veränderungsschritte zu verursachen, obwohl die Aufgabe lautete, das alte Verhaltensmuster bewusst beizubehalten (vgl. ebd.: 130).
Minimalinterventionen£
Unter den lösungsorientierten Ansatz fallen auch die sogenannten Minimalinterventionen. Hierbei handelt es sich um kurze Handlungsempfehlungen an die PSA. So kann es beispielweise hilfreich sein, Probleme mit dem Wort «bisher» oder «in der Vergangenheit» zu beschreiben. So vermittelt man den KlientInnen, dass Probleme oder schwierige Umstände nicht feststehend, sondern veränderbar und lösbar sind und dass etwas «in der Vergangenheit» so war, aber «in Zukunft» schon ganz anders aussehen könnte (vgl. M. Prior: 2019, 17f).
Phasenmodell der lösungsorientieren Beratung
Im ersten Schritt dieses Phasenmodells, der «Synchronisation», geht es darum, einander kennen zulernen, die Kompetenzen, Ressourcen und vor allem auch die Ziele der Klientel herauszufinden. Es ist wichtig, die Klientel und ihre Bereitschaft zu Mitarbeit zu würdigen und die Ziele und Lösungsaufträge der Klientel miteinzubeziehen, um bei dieser eine Motivation zur Zusammenarbeit zu schaffen. Es macht also Sinn, die jeweiligen Ziele von Beratungsperson und Klientel offen und ehrlich miteinander abzugleichen und einen gemeinsamen Nenner zu finden, auf Grundlage dessen eine Zusammenarbeit möglich ist. Auf Grundlage dieses gemeinsamen Nenners kann ein Kontrakt zur Kooperation abgeschlossen werden, welcher aber immer wieder anpassbar ist (vgl. Bamberger 2022: 79). Weiterhin ist es wichtig, dass Beratungsperson und Klientel eine gemeinsame Sprache finden, um Missverständnissen vorzubeugen. Dazu sollte sich die Beratungsperson auf die Sprache der Klientel einlassen und deren Ausdrücke, Bilder und Metaphern benutzen sowie auf Schlüsselwörter achten. All das verstärkt das Gefühl der Klientel, wirklich verstanden zu werden (vgl. ebd.: 69ff.).
Techniken wie die «Wunderfrage» gehören in den zweiten Schritt des Phasenmodells, der Lösungsvision. Mithilfe der Wunderfrage können Beratende hier beispielsweise herausfinden, wie das Leben für die Klientel aussähe, wenn alle Probleme auf einmal gelöst wären. Daraus kann sich ein übergeordnetes Ziel ergeben. Der Weg zu diesem übergeordneten Ziel lässt sich in kleinere Teilziele unterteilen. Hier lassen sich auch weitere Techniken des Lösungsorientierten Ansatzes, wie die Ausnahmefrage oder das Reframing einbauen. Auch Lösungstendenzen können erkundet werden: Vielleicht hat sich ja in letzter Zeit schon etwas zum Positiven verändert? Oder gibt es etwas im Verhalten der Klientel, was diese versuchsweise ändern könnten?
Während der ganzen Zeit ist es wichtig, dass die Klientel das Gefühl haben von der Beratungsperson wirklich verstanden worden zu sein, was ihr Problem und ihre Situation angehen. Dafür ist es wichtig für einen Moment doch tiefer auf das Problem einzugehen, ohne sofort nach Lösungen zu suchen, damit die Klientel sich in seinem Problemerleben verstanden fühlt (vgl. ebd.: 80ff).
Im weiteren Verlauf und damit im dritten Schritt des Phasenmodells, der «Ressourcenaktivierung», ist es wichtig, die Klientinnen und Klienten immer wieder auf ihre Kompetenzen und Ressourcen wertschätzend anzusprechen und sie bei positiven Veränderungen darauf hinzuweisen, dass sie selbst für diese Veränderung verantwortlich sind. Hier gilt es, auch auf Verhaltensmerkmale zu achten, die auf Kompetenzen der Klientel hindeuten. Es kann sich auch lohnen, in der Vergangenheit der Klientel nachzuforschen. Gab es schwierige Situationen und welche Stärken konnten sie in diesen Situationen aktivieren? Für welche Eigenschaften bekommen sie Komplimente von anderen? (vgl. ebd.: 118ff).
Die vierte Beratungsphase ist bezeichnet durch eine «Nachdenkpause» und das «Zwischenfazit». Im Lösungsorientierten Ansatz besteht die Gefahr, sich zu schnell und voreilig möglichen Lösungen zuzuwenden. Es kann sein, dass die Klientel noch nicht so weit ist oder die Ressourcen und Kompetenzen, die die Beratungsperson in der Klientel sieht, noch gar nicht richtig vor Augen haben. Es empfiehlt sich Zeit zu lassen und wie de Shazer empfiehlt, einen Schritt hinter der Klientel zu bleiben (vgl. ebd.: 132). In diesem Schritt erfolgt, nach Kuhl und Hartung, ein Wechsel von der lageorientierten Strategie zur handlungsorientierten Strategie, in der konkrete Handlungsschritte geplant werden (vgl. ebd.: 132). Aufgabe der Beratungsperson ist es in dieser Pause zurückzublicken auf den bisherigen Gesprächsverlauf. Währenddessen erhält die Klientel die Aufgabe, sich ihre Stärken und Ressourcen nochmals bewusst zu machen und zu überlegen, wie sie diese zur Verbesserung ihrer Situation einsetzen könnten. So richtet sich auch die Aufmerksamkeit der Klientel vom Problem auf die Lösung und sie bauen eine Erwartungsspannung auf das auf, was als nächstes passieren wird. Die KlientInnen fühlen sich in ihrer Mitgestaltungsmotivation und Selbstwirksamkeit bestärkt (vgl. ebd.: 134). Die Beratungsperson sollte in dieser Pause eine für die Klientel hilfreiche Rückmeldung formulieren. Die Klientel soll sich dadurch in seinem Problemerleben verstanden und respektiert, als auch in ihren Kompetenzen und Ressourcen wertgeschätzt fühlen (vgl. ebd.: 134).
In der fünften Beratungsphase, der «Handlungsmotivierung» geht es darum die im Laufe der Beratung herausgearbeiteten Kompetenzen und Ressourcen im Alltag der Klientel durch sogenannte Hausaufgaben, Anregungen oder Experimente umzusetzen (vgl. ebd.: 138). Beratungsperson und Klientel treffen also Verhaltensvereinbarung, die die Klientel in der Zeit zwischen den Beratungsgesprächen umsetzt. Es empfiehlt sich, gemeinsam mit der Klientel mehrere, unterschiedliche Aufgaben mit kognitiven und verhaltensorientierten Inhalten zu entwickeln (vgl. ebd.: 138). Die Beratungstermine fungieren in dieser Zeit als Briefing für diese Lösungsaktivitäten der Klientel. So kann die Klientel erzielte Erfolge auf seine eigene Handlungskompetenz zurückführen und die positive Veränderung kann sich stabilisieren (vgl. ebd.: 137). Um die Klientel darin zu unterstützen, die Hausaufgaben tatsächlich umzusetzen, kann man das Lösungshandeln operationalisieren. Das heisst es werden im Beratungsgespräch genauere Eckpunkte der Umsetzung besprochen (Wer? Wie? Was? Wann? Wo?). Zum Beispiel in Form einer imaginativ-erprobenden Vergegenwärtigung (vgl. ebd.: 141). Um die Selbstverpflichtung noch zu erhöhen, kann im Anschluss die Handlungsplanung schriftlich festgehalten werden, wobei die Klientel die Handlungsplanung formuliert und die Beratungsperson das Ganze protokolliert. Hier bietet es sich auch wieder an. die Klientel mit einem Kompliment zu ihrer Kooperationsbereitschaft o.ä. zu bestärken (vgl. ebd.: 143f).
Der sechste und letzte Schritt des Phasenmodels von Bamberger ist die «Lösungsevaluation». In dieser Phase geht es darum zu erfahren, ob und welche positiven Veränderungen sich inzwischen in der Lebenswelt der Klientel einstellen. Das ursprüngliche Problem ist nun voll und ganz in den Hintergrund gerückt und es wird in den Beratungen nur noch auf das Lösungssystem fokussiert (vgl. ebd.: 150f). Nach Bamberger wird nun aus der «lösungsorientierten Beratung» die «verbesserungsfokussierte Beratung» (vgl. ebd.: 151). Es lohnt sich hier als Beratungsperson hartnäckig zu bleiben und immer wieder mit verschiedenen Fragetechniken (z.B. W-Fragen) gemeinsam mit der Klientel auf die Suche nach Verbesserungen zu gehen und sich auch für Details zu interessierten. Dies unterstützt die Klientel dabei selbst zu erkennen, dass es Veränderungen gibt und in einem weiteren Schritt, dass sie es ist, die diese Veränderungen anstösst. Hier kann «change talk» bei der Klientel entstehen (vgl. ebd. 152).
Bamberger führt als letzten wichtigen Schritt die «Beendigung der Beratung» auf (vgl. ebd.: 172). In diesem Schritt ist es zentral, das begonnene Lösungshandeln noch einmal zu verstärken. Es ist wichtig, dass Beratungsperson und vor allem Klientel mit dem Annähern an die Lösung zufrieden sind. Der Anspruch ist nicht, dass am Ende der Beratung alle Probleme gelöst sind. Vielmehr ist es wichtig, sicherzustellen, dass die Klientel nachhaltige Lösungsansätze aus der Beratung mitnimmt und die Beratungsbeziehung langsam ausgeschlichen werden kann (vgl. ebd.: 172).
RELATIONIERUNG
Wie kann die PSA den Klienten motivieren, den rechtlichen Weg einzuschlagen und für eine Verhaltensänderung gewinnen?
Im vorliegenden Fall kann die PSA bereits viel Motivation, Handlungsenergie und Willenskraft als Ressource beim Klienten erkennen. Dies kann als Vorteil gegenüber Fällen gesehen werden, bei denen die Motivation der Klientel erst aufgebaut werden muss. Hier scheint es für die PSA eher wichtig, den Klienten dabei zu unterstützen, seine Energie und Motivation für sich richtig zu nutzen, so dass ein wirklicher Vorteil für ihn daraus entsteht. Seine Energie sollte dem Klienten nutzen und nicht schaden.
Als direktive Methode kann die Motivierende Gesprächsführung nun genutzt werden, um diese Motivation des Klienten in eine Richtung zu lenken, in der der Klient straffrei bleibt und im besten Fall noch befähigt wird, seine Lebensumstände für sich selbst besser und gesünder zu gestalten. In der Motivierenden Gesprächsführung geht es unter anderem darum, den Klienten darin zu unterstützen, seine eigenen Ambivalenzen zu erkennen. Die PSA hat die Ambivalenz und vor allem die Reaktanz des Klienten gespürt, konnte diese aber nicht der fehlenden intrinsischen Motivation und dem Modell der Schritte zur Verhaltensänderung zuordnen. Damit hat sie auch nicht bewusst damit gearbeitet, was ihre Hilflosigkeit erklärt, als sie spürt, dass der Klient nicht in ihrem Sinne handeln will. Auch scheint der PSA in der Situation nicht bewusst zu sein, dass nur der Klient allein hinaus aus der Ambivalenz finden und ihre Rolle es einzig sein kann, ihn dabei zu unterstützen, eine Erkenntnisveränderung zu erlangen. Die PSA hat in der Situation aufgrund dessen, dass sie die Ambivalenz nicht bewusst erkannt hat, diese nicht erforscht. Dies kann mitunter ein Grund dafür sein, dass sie nicht verstanden hat, warum der Klient nicht auf ihren Vorschlag eingehen konnte.
In seinem Wunsch, straffrei zu bleiben, kann die PSA auch die Tendenz zur Selbstaktualisierung nach Carl Rogers erkennen, also das Bedürfnis, kongruent mit sich und der Umwelt zu sein. Der Klient strebt stark nach seinen eigenen Werten, die hier zu erkennen sind, und die sich in diesem Fall mit den Werten der PSA decken. Dies kann man als gute Voraussetzung dafür deuten, dass die Zusammenarbeit von PSA und Klient erfolgreich sein kann. Der Grundstein hierfür scheint gelegt.
Hierfür kann sich die PSA verschiedene Hilfsmittel der Motivierenden Gesprächsführung zu Nutze machen. Zunächst ist es wichtig, dem Klienten empathisch und kongruent zu begegnen und ihn mit all seinen Ressourcen wertzuschätzen und bedingungslos, ungeachtet seiner Taten, zu akzeptieren. Der Klient soll spüren können, dass die PSA wirklich an ihn glaubt. Im weiteren Verlauf kann die PSA den Klienten darin unterstützen, eine Diskrepanz zwischen dem Soll- und Ist-Zustand zu erkennen. Diese Erkenntnis scheint beim Klienten bereits vorangeschritten zu sein, da er erwähnt, dass er im Gefängnis erkannt hat, sein Leben anders gestalten zu wollen. Er scheint vielmehr noch in alten Mustern festzustecken und Unterstützung dabei zu benötigen, neue, förderlichere Muster zu etablieren. Hier ist die Rolle der PSA gefragt. Bei alldem ist es wichtig, dass die PSA nicht anfängt, für den richtigen Weg aus der Ambivalenz zu argumentieren, denn das könnte den Klienten dazu veranlassen, automatisch die andere Position einzunehmen. Vielmehr gilt es, die Ambivalenz des Klienten gemeinsam zu erforschen und ihm empathisch und wertschätzend zu begegnen, eine äussere Atmosphäre der empathischen Annahme zu schaffen und den KL dahin zu führen, selbst «Change Talk» zu betreiben. So kann letztlich die vorhandene intrinsische Motivation des Klienten in die richtige Richtung geleitet werden.
Laut eigenen Aussagen hat die Zeit im Gefängnis bei ihm ein Umdenken ausgelöst und er möchte nun einiges anders machen. Es scheint aber fast so, als wäre der Klient in seinem dauerhaften Handeln nach seinem alten Muster gefangen. Die Einsicht, dass dieses Handlungsmuster vermutlich nicht zur Verbesserung seiner Lebensumstände führen wird, hat er noch nicht. Nach dieser Betrachtung befindet sich der Klient trotz seiner dauernden Handlungen auf Stufe 2 (Absichtsbildung oder Nachdenklichkeit) des Transtheoretischen Modells Prochaska et al. Er möchte etwas an seinem Leben ändern, hat also eine Absicht und denkt auch darüber nach, wie dies gelingen könnte. Vielleicht ist er sogar davon überzeugt, einen Lösungsweg gefunden zu haben, der der PSA allerdings nicht sehr praktikabel erscheint. An diesem Punkt ist die PSA gefragt, ihn auf dieser Stufe abzuholen, mit ihm gemeinsam seine Ambivalenzen festzustellen und zusammen einen praktikableren Lösungsweg zu erarbeiten. Im Anschluss gilt es, ihn in den nächsten Stufen des TTM zu begleiten, um eine nachhaltige Veränderung im Leben des Klienten zu unterstützen. Nachdem mithilfe der motivierenden Gesprächsführung die Ambivalenz des Klienten gemeinsam erkundet werden konnte und eine Veränderungsmotivation entstanden ist, können mit Techniken der Lösungsorientierten Gesprächsführung weitere Ressourcen des Klienten gefunden werden.
Wie in der lösungsorientierten Gesprächsführung hat die PSA sich zunächst mit dem Klienten verbunden, in dem sie zu Gesprächsbeginn nach seiner aktuellen Lage gefragt und sich ehrlich interessiert hat. Durch ihre Empathie, ihr aktives Zuhören und ihrer Zugewandtheit zeigt sie dem Klienten ihr ernsthaftes Interesse, ihre ehrliche Anerkennung und Mitgefühl gegenüber ihm und seiner Lebenssituation. Die PSA kann sich nun gemeinsam mit dem Klienten in einen Solution Talk begeben, bei welchem Sie gemeinsam erkunden, wie der Klient bisher zu seinen Lösungen kam, welche Wünsche und Hoffnungen er hat und welche Ressourcen und vor allem welches echte Anliegen des Klienten sich daraus ergibt. Der Blick richtet sich hierbei vor allem auf Ausnahmen in problematischen Lebenssituationen. Hier können sich starke Ressourcen verbergen. Hat der Klient zum Beispiel auch gut laufende Geschäfte und was ist bei diesen anders? In dem sich die PSA bewusst ist, dass sie den Klienten nicht zu einer Veränderung zwingen kann und sie ihm ihre Ziele nicht überstülpen kann, sucht sie gemeinsam mit dem Klienten ein Ziel, hinter dem sie beide und vor allem der Klient stehen kann. So ist die intrinsische Motivation des Klienten gegeben. Dieses Bewusstsein über die Selbstbestimmung des Klienten bildet sich bei der PSA erst nach dem Gespräch mit ihrer PA. Das Ziel, eine Krankenkassenpolice abzuschliessen, kann ein gemeinsames Ziel sein, bei dem sich Klient und PSA allerdings an verschiedenen Standpunkten zu befinden scheinen. Bei der Zielsuche können Fragetechniken wie zum Beispiel die Wunderfrage helfen. Mit dem oberen Abschnitt wären auch Phase 1 und Phase 2 des Phasenmodells der lösungsorientieren Beratung, die Synchronisation und die Lösungsvision, abgedeckt. Von diesem Punkt aus können die zielführenden Fähigkeiten in Phase 3, der Ressourcenaktivierung, gemeinsam aufgebaut werden. Hilfreich ist auch, dass die PSA die Ressourcen des Klienten sieht und bewundert, wie zum Beispiel die Willenskraft und die Möglichkeiten, die er findet, um immer wieder neue Geldquellen für seine verschiedenen Projekte aufzutun. Eine solche Anerkennung kann durch indirekte Komplimente in der lösungsorientierten Gesprächsführung noch deutlicher gemacht werden und stärkt die Arbeitsbeziehung zwischen PSA und Klientel. Ausserdem können dem Klienten seine Kompetenzen teilweise so erst bewusst werden. Auch zirkuläre Fragen, also die Frage danach, wie wohl zum Beispiel seine Familienmitglieder ihn sehen, können hilfreich sein, indem sie sein festgefahrenes Selbstbild von dem, der immer arbeitet, alles alleine schaffen muss und nie scheitern darf, ins Wanken bringen. Im Laufe des Gesprächs legt die PSA dem Klienten, trotz ihrem Zeitdruck und wie im Lösungsorientierten Ansatz empfohlen, die aktuelle Faktenlage immer vollständig und transparent dar, was den Klienten dabei unterstützt, valide Entscheidungen zu treffen und nochmals das Vertrauen zwischen den beiden stärkt. Dadurch, dass die PSA sich während des Gesprächs einen Rat bei ihrer PA einholt, hat sie unbewusst die Pause eingelegt, die der Klienten nach dem Phasenmodell (Phase 4) von Bamberger benötigt, um sich seiner Situation sowie seinen Möglichkeiten und Ressourcen bewusst zu werden. In dieser scheint er einzusehen, dass es nun eine Lösung geben muss. Die PSA wiederum erkennt im Gespräch mit der PA nun, was auch Szabó und Berg erkannt haben, und zwar, dass man niemanden zwingen kann, sich zu verändern und dass der Klient am Ende selbst für seine Leben entscheiden muss. So sind die Voraussetzungen für Phase 5, der Handlungsmotivierung bei beiden gegeben. Der Klient kann dem Vorschlag der PSA, die Police für ihn abzuschliessen, annehmen. Dadurch, dass sie den Klienten detailliert über die nächsten Schritte aufklärt und auch seine Sorgen und Bedürfnisse in ihre Handlungsplanung mit einbezieht, wird der Weg für ihn deutlicher und wiederum nach dem Lösungsorientierten Ansatz in kleine bewältigbare Schritte aufgeteilt, die ihm Erleichterung verschaffen und die Sicherheit geben, das endgültige Ziel zu erreichen. Durch das Ende der Praxisphase der PSA kann Phase 6, die Lösungsevaluation, nicht mehr zwischen den beiden stattfinden. Der Ablauf der Abschiedssequenz zeigt jedoch, dass während der Zusammenarbeit eine gute Arbeitsbeziehung und ein Vertrauen aufgebaut werden konnte, dass die PSA sich ehrlich und empathisch für den Klienten eingesetzt hat und dass ihr sein Wohl wirklich am Herzen lag. Sie hat seine Ressourcen entdeckt, anerkannt und wertgeschätzt.
5.3 Erfahrungswissen – Woran erinnere ich mich, was kenne ich aus ähnlichen Situationen?
Welches Erfahrungswissen zu Spannungsfeldern zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Autonomie des Gegenübers ist in der CoP vorhanden?
In der professionellen Tätigkeit (oder auch im privaten Bereich) ist es wertvoll, innezuhalten, sich sehr gut zu überlegen, ob man sich für eine Sache einsetzen soll, wenn eine ablehnende Haltung des Gegenübers spürbar ist oder dieses eine andere Sicht auf die Lösung hat. Im Wissen, dass Hilfe nur dann stattfinden kann, wenn die Hilfe-empfangende Person die Hilfe auch wünscht. Meine Erfahrung mit diversen Situationen zeigt, dass Nachhaltigkeit vor allem dann gegeben ist, wenn die Selbstwirksamkeit des Gegenübers ausgelebt werden kann bzw. dieses die Kompetenz zur richtigen Entscheidung zugeschrieben erhält.
Druck kann erfahrungsgemäss zu einer Blockade bzw. Widerstand führen. Wenn dies geschieht, sind nicht selten zusätzliche Aufwände und Zeitbedarf nötig, um den Widerstand aufzulösen. Ich habe die Erkenntnis gewonnen, dass ich – auch unter Zeitdruck und wenn ich anderer Meinung bin – die Bedürfnisse, den Willen und die Ideen des Gegenübers ernst nehmen muss, da sonst a) das Ziel nicht erreicht werden kann und b) es meist länger dauert, bis der Weg zum Ziel eingeschlagen werden kann. Begleitet sind solche Situationen – gerade im Familienkontext – oft zusätzlich durch Energieverlust und unnötigen Reibereien. Schlussendlich ist es meiner Erfahrung nach immer wieder so: Jeder Mensch möchte seine Autonomie wahren können, ernst genommen und gesehen werden.
Zunächst ist es wichtig, die Ziele des Gegenübers herauszufinden, die die Person selbst gerne erreichen würde. Hier lassen sich meist Übereinstimmungen mit den eigenen Zielen oder Kompromissmöglichkeiten finden. So kann ein gemeinsames Ziel gefunden werden, für dass sich das Gegenüber und auch man selbst sich motivieren kann.
Die Erfahrung zeigt, dass es ein wesentlicher Punkt ist, dem Gegenüber wirklich aktiv und aufmerksam zuzuhören. Fallen dabei Ambivalenzen des Gegenübers in dessen Erzählungen auf, ist es hilfreich, wertschätzend auf diese Ambivalenz hinzuweisen, am Besten indem man die ambivalenten Punkte im Wortlaut des Gegenübers wiederholt. «Ich habe dich so verstanden, dass du einerseits möchtest, dass … und andererseits aber möchtest, dass…». Im Idealfall spricht die Person die eigene Ambivalenz dann selbst an. Nun kann man gemeinsam überlegen, wie mit dieser Ambivalenz umgegangen werden kann. Wobei vorzugsweise das Gegenüber Ideen bringt, die ihm machbar erscheinen, während man selbst mit hilfreichen Fragen unterstützt. Dabei reichen zunächst kleine Ziele / Änderungen, die leicht zu erreichen sind. Auch hier geht es darum, die Autonomie des Gegenübers zu wahren. Am Ende muss das Gegenüber ehrlich hinter seinen Entscheidungen und Zielen stehen, um diese umsetzen zu können. Möchten wir nachhaltige Veränderungen fördern, können wir die Entscheidungen dazu unterstützen und begleiten, aber nicht abnehmen.
Welche Bedürfnisse hat mein Gegenüber? Sind diese Bedürfnisse gesättigt oder muss vorgängig an diesen noch gearbeitet werden, um sich möglichen Zielen zuzuwenden?
Konkret ist hier die «Gewaltfreie Kommunikation» von Marshall B. Rosenberg Thema, bei welcher das Abfragen von Gefühlen und danach den Bedürfnissen ein wichtiger Bestandteil der Lösungsfindung ist. Nach Einschätzungen der PSA passiert neben der Vermittlung der Sicherheit und des Gefühls des Verstanden-seins eine empathische Verbindung zwischen der Fachperson und dem Gegenüber. Das miteinhergehende Vertrauen kann als motivierender Faktor entscheidend zum Gelingen der gesetzten Ziele beitragen. Manchmal ist es auch wichtig, den Grund für das Handeln oder auch das Nichthandeln des Gegenübers zu verstehen. Häufig sind es innere Einwände, die das Gegenüber im Besten Fall benennen kann. In diesem Fall kann der Einwand möglicherweise behoben werden. Es kann aber auch sein, dass Traumata oder langgehegte Glaubenssätze verhindern, dass Lösungen umgesetzt werden können. In einem solchen Fall braucht es entsprechende Therapien, um diese «Widerstände» aus der Welt zu schaffen.
RELATIONIERUNG
Welches Erfahrungswissen zu Spannungsfeldern zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Autonomie des Gegenübers ist in der CoP vorhanden?
Es wird in der Situation deutlich, dass der Zeitdruck ein grosser Begleiter dieses letzten Klientengesprächs war. Dies einerseits möglicherweise aus einer Ungeduld der PSA hinaus, dass sie nicht verstehen konnte, warum sich der Klient nicht auf ihren (aus ihrer Sicht guten) Vorschlag einlassen konnte und andererseits, weil die PSA kurz vor Ende der Praxisphase stand und mindestens das Krankenkassen-Versicherungsthema abschliessen wollte. Das Erfahrungswissen zeigt auf, dass Druck – den die PSA mit grosser Wahrscheinlichkeit aufgrund des zeitlichen Engpasses – automatisch auf den Klienten ausgeübt hat, Widerstand (auf Seiten Klient) und Energieverlust (auf beiden Seiten) erzeugt hat. Das gesammelte Erfahrungswissen zeigt weiter, dass diesem Widerstand in jedem Fall Rechnung getragen werden muss, denn wenn nicht, es im Sinne der Zielerreichung kontraproduktiv werden und zu unnötigen Reibereien führen kann; im Wissen, dass es in der Natur des Menschen liegt, autonom handeln und entscheiden zu dürfen bzw. selbstwirksam sein zu können.
Es ist zudem wichtig, die Bedürfnisse des Gegenübers ernst zu nehmen bzw. dessen Ziele herauszufinden. Dies ist mitunter durch aufmerksames Zuhören möglich. Möglicherweise hat die PSA in der Situation und im wahrscheinlich spürbaren Zeitdruck dieses aufmerksame Zuhören nicht angewandt, weil sie stets Attribute wie «zügig vorankommen», «Unterstützung vorantreiben», «schnell abschliessen», «Gas geben» im Fokus hatte. Damit hat die PSA möglicherweise ihre Ziele über diejenigen des Klienten gestellt und ist so einen (zu schnellen) Weg gegangen, dem der Klient nicht mehr folgen konnte oder zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht wollte (Veränderungsprozess konnte nicht so schnell stattfinden). Durch den Zeitdruck und das Gas geben der PSA lag ein grösseres Gewicht auf der «Verantwortungsübernahme» als auf der Wahrung der Eigenverantwortung des Klienten. Auch die Wahrung des «wohlverstandenen Interesses des Klienten» scheint in der Situation zeitweise in den Hintergrund gerückt sein. Die PSA hat statt dem Ergründen des «Wieso befindet sich der Klient in einer Reaktanz» in ihrem Hilflosigkeitsgefühl das Gespräch mit der PA gesucht – eine spontane Kurzschlussreaktion, welche die innere Ambivalenz etwas auflösen konnte. Die Erkenntnis nach diesem Gespräch, dass der Klient seine Entscheidung selbst treffen muss, schliesst den Kreis wieder und wir befinden uns bei der Selbstwirksamkeit, die jeder Mensch von Natur aus wahren und ausleben möchte.
5.4 Organisations- und Kontextwissen – Welche Rahmenbedingungen beeinflussen mein Handeln?
Welche Rahmenbedingungen beeinflussen das Handeln der PSA, um im wohlverstandenen Interesse des Klienten zu handeln?
Auftrag der Bewährungshilfe
Die Bewährungshilfe hat gemäss Art. 93 StGB den Auftrag, ihre Klientel vor Rückfälligkeit zu bewahren und sozial zu integrieren. Rückfallvermeidung und Integration werden als äquivalente Aspekte der Bewährungshilfe verstanden und umgesetzt (vgl. Standards und Indikatoren für die Bewährungsdienste 2023: 8).
Rechtliche Situation und gesetzliche Vorgaben
Im Rahmen der Klientenbetreuung werden Klienten zu Beginn der Zusammenarbeit von den Bewährungshelfer:innen über den Auftrag, die gesetzlichen Vorgaben sowie die gegenseitigen Rechte und Pflichten informiert (vgl. ebd.: 10). Bei rechtlichen Fragen kann die interne Rechtsstelle beigezogen werden.
Anzeigepflicht bei Offizialdelikten
Bewährungshelfer:innen unterliegen dem Amtsgeheimnis. Erhalten sie jedoch in Ausübung ihres Amtes Kenntnis von einer Straftat, sind sie dazu angehalten, entsprechend zu reagieren (vgl. ebd.: 8).
Beziehungsgestaltung
Der Beziehungsgestaltung bzw. die Arbeitsbeziehung wird als tragendes Fundament für ein funktionierendes und professionell gestaltetes Arbeitsbündnis beurteilt und als «bedeutendsten und empirisch am besten bestätigten Wirkfaktor einer veränderungsorientierten Betreuung oder Beratung» betont (vgl. ebd.: 11). Ein Arbeitsbündnis soll durch verbindliche Zielsetzungen geprägt sein und zeichnet sich durch Transparenz, Empathie, Authentizität und Konfliktfähigkeit aus. Das erforderliche Fachwissen und die erforderlichen Fachkompetenzen werden von den Bewährungshelfer:innen im Sinne einer professionellen Beziehungsgestaltung vorausgesetzt (vgl. ebd.: 11).
Krankenversicherungsgesetz (KVG)
Das Bundesgesetz über die Krankenversicherung KVG (1994) hält in Art. 3 KVG fest, dass jede Person, die sich in der Schweiz niederlässt, spätestens drei Monate nach ihrer Wohnsitznahme sich krankenversichern muss. Damit besteht eine Krankenversicherungspflicht. Wird diese Frist nicht eingehalten, wird ein Zuschlag erhoben und bereits entstandene Auslagen werden nicht vergütet (vgl. Bundesamt für Gesundheit BAG. Die obligatorische Krankenversicherung. o.J.: 4f.). Die Kantone stehen in der Verantwortung, haben eine Kontrollfunktion und sorgen für die Einhaltung der Versicherungspflicht (vgl. Bundesgesetz über die Krankenversicherung 1994 Art. 6 KVG). Die vom Kanton bezeichnete Behörde weist Personen, die ihrer Versicherungspflicht nicht rechtzeitig nachkommen, einem Versicherer zu (vgl. ebd.: Art. 6).
Rechtliche Abklärungen mit Experten für Sozialversicherungsrecht sowie Strafrechtes an der FHNW, Hochschule für Soziale Arbeit
Abklärungen bzw. ein mündlicher Austausch vom Dezember 2024 mit einem externen Lehrbeauftragten an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) im Modul «Sozialpolitik und Sozialrecht», tätig als Rechtsanwalt und einer an der FHNW tätigen Expertin für Strafrecht, haben ergeben: Der Fall mit der langjährigen Krankenkassenlücke ist komplex. Es muss der rechtmässige Zustand wieder hergestellt werden. Rechtliche Bestimmungen besagen, dass unrechtmässig erhaltenes Geld zurückbezahlt werden muss. Im vorliegenden Fall ist es nicht unrechtmässig erhaltenes Geld, sondern es sind nicht erbrachte, von Gesetzeswegen verpflichtende Zahlungen, die dem Klienten aber theoretisch ermöglicht hätten, zu sparen. Damit hatte der Klient dennoch einen finanziellen Vorteil und es wäre ein falsches Zeichen gegenüber allen Personen, die Krankenkassenprämien verpflichtend zahlen müssen, wenn der Klient die versäumten Zahlungen nicht nachholen müsste. Rechtlich gesehen stellt sich die Frage nach der Schuld und der Haftung. Laut D. Schilliger kann vom Klienten erwartet werden, dass er sich der fehlenden Zahlungen bewusst war und somit die Haftung trägt. Auch ein Gericht würde das vermutlich so sehen. Laut D. Schilliger muss der Klient die ausstehende Summe also grundsätzlich begleichen. ABER: Da der Klient wahrscheinlich von einer IPV (Individuellen Prämienverbilligung) hätte profitieren können und damit für ihn ein Schaden entstanden ist dadurch, dass er die Prämienverbilligung zugute gehabt hätte aber jetzt nicht mehr nachfordern kann, wäre die Empfehlung seitens D. Schilliger im vorliegenden Fall: Die Schuldenberatung beiziehen, Erlassmöglichkeiten prüfen und mit der Krankenkasse das Gespräch suchen (kommunikatives Geschick ist gefordert). Die Krankenkasse will grundsätzlich Geld sehen. Geld, das der Klient in seiner Situation nicht – oder nicht vollumfänglich – zahlen kann aufgrund seiner Verschuldung. Es bestehen also Chancen, zusammen mit der Schuldenberatung ein realistisches Angebot im Sinne der Schuldensanierung zu machen und einen Geldbetrag aushandeln, den der Klient zahlen kann (z.B. 20 – 30% der Gesamtsumme), was für die Krankenkasse besser ist als gar kein Geld zu sehen, wenn es auf eine Betreibung und Verlustscheine hinausläuft. Mit einer solchen Vereinbarung wäre der rechtmässige Zustand wieder hergestellt.
Die Rechtsexpertin Monika von Fellenberg vertritt nach Schilderung des Falles die Meinung, dass die PSA intuitiv korrekt gehandelt hat. Einerseits im Sinne ihres Auftrags als Bewährungshelferin, indem sie sichergestellt hat, dass der Klient wieder krankenversichert ist. Andererseits auch, indem sie das Gespräch mit der letzten Krankenkasse des Klienten und mit der Gemeinde, die die scheinbare Meldung an die Krankenkasse gemacht hat, dass der Klient ins Ausland gezogen sei, gesucht und damit versucht hat, den Sachverhalt zu ergründen. Laut von Fellenberg hat sie damit getan, was sie konnte und bzgl. Krankenversicherung das Risiko für den Klienten, bei einem gesundheitlichen Vorfall in finanziell noch grössere Schwierigkeiten zu kommen, aufgefangen. Auch Monika von Fellenberg empfiehlt betr. dem Thema «Rückzahlung der offenen Beträge» die Einberufung eines runden Tisches mit allen Beteiligten (in diesem Fall: Klient, PSA, Schuldenberatung, Krankenkasse), um die Situation zu bereinigen und eine für beide Seiten bestmögliche Lösung zu finden (bspw. mit einem «Vergleich», um nur einen Teil des finanziellen Ausstandes begleichen zu müssen).
RELATIONIERUNG
Welche Rahmenbedingungen beeinflussen das Handeln der PSA, um im wohlverstandenen Interesse des Klienten zu handeln?
Das erarbeitete Organisations- und Kontextwissen zeigt auf, dass die PSA intuitiv richtig gehandelt hat, indem sie darauf drängte, a) möglichst schnell eine Krankenversicherung abzuschliessen und b) den Klienten transparent informierte, dass wahrscheinlich kein Weg daran vorbeiführe, die Rückzahlungen zu tätigen, da er gewusst hat, dass er verpflichtet ist, Krankenkassenprämien zu zahlen. Die PSA hat damit in ihrer Doppelrolle als Bewährungshelferin (Delinquenz vermeiden) und als fürsorgetragende Fachperson (Gesundheit schützen) gehandelt. Der Klient war sich zudem dem Auftrag der PSA bewusst, ihn als Bewährungshelferin dabei zu unterstützen, straffrei zu bleiben. Die Bewährungshelferin muss – trotz Amtsgeheimnis – aktiv werden, wenn sie von einer Straftat/einem Offizialdelikt erfährt. Es stellt sich nun die Frage, ob wissentlich versäumte Krankenkassenzahlungen als Offizialdelikt gelten. Die Abklärungen mit D. Schilliger und M. von Fellenberg zeigen, dass der Klient in diesem Fall eine Schuld und damit die Haftung trägt. Er hat sich durch die nicht getätigten Zahlungen einen Vorteil verschafft, der nicht rechtens ist. Rechtlich gesehen ist es das Ziel, den rechtmässigen Zustand wieder herzustellen. Es ist damit richtig, grundsätzlich von vollständigen Rückzahlungen auszugehen, im Sinne des Klienten die Chance aber nicht ausser Acht zu lassen, dass über Gespräche mit der Krankenkasse, auch unter Berücksichtigung eines möglichen Fehlers auf Seiten dieser und der finanziell schwierigen Situation des Klienten, über ein finanzielles Entgegenzukommen (reduzierte Rückzahlungen) zu sprechen. Die PSA hat dem Klienten gegenüber gezeigt, dass Sie im Rahmen ihrer professionellen Handlungsweise mit dem Klienten einerseits den rechtmässig korrekten Weg gehen will, andererseits aber durch die Gespräche mit der ehemaligen Krankenversicherung und der Gemeinde versucht hat, den Fall so gut wie möglich zum Vorteil des Klienten aufzuklären.
Es ist die Rolle der PSA, den Klienten über die rechtliche Situation aufzuklären. Die gute Beziehung zum Klienten hat geholfen, sein Verständnis für die Handlungsweise der PSA zu stärken, auch wenn – oder gerade, wenn – dies nicht immer im Sinne des Klienten geschah. Die Bewährungshelferin muss in der Klientenbeziehung transparent sein und sich durch Konfliktfähigkeit auszeichnen. Transparenz hat die PSA durch das Aufzeigen des Weges, der vom Klienten gegangen werden muss, um straffrei zu bleiben, gezeigt. Durch das nicht immer vorhandene Verständnis für die Reaktanz seitens Klienten bzw. den gespürten Widerstand wurde die Konfliktfähigkeit der PSA zeitweise auf eine Probe gestellt.
Die PSA hat in und nach der Situation den Bewährungshilfe-internen Rechtsdienst nicht konsultiert, was die teilweise vorhandene Unsicherheit der PSA mit der Gesamtsituation (was ist ihr Auftrag? Wessen Rolle ist es, die rechtmässige Krankenversicherung zu erwirken?) erklärt. Die Ende Dezember 2023 getroffenen rechtlichen Abklärungen mit D. Schilliger und Monika von Fellenberg bestätigen die im Grundsatz korrekte Handlungsweise der PSA und zeigen auf, dass es sich um eine komplexe, nicht alltägliche Situation handelt. Sie geben Anstösse auf weiterführende mögliche Handlungsweisen für die PSA.
5.5 Fähigkeiten – Was muss ich als professionelle Fachperson können?
Was muss die PSA als Fachperson wissen und können, um auf die Ambivalenzen/Reaktanz des Klienten eingehen zu können bzw. in seinem wohlverstandenen Interesse zu handeln und dennoch an einer gesetzeskonformen Lösung zu arbeiten?
- Empathiefähigkeit, Sich-in-den-Klienten-einfühlen-können mit der Absicht, dass er dies auch so wahrnimmt
- Echtes Verständnis für die Haltung, Handlungsweise und Lebenswelt des Klienten entwickeln und deuten können
- Fähigkeit, den Auftrag der Bewährungshilfe zu kennen und damit verbunden die rechtlichen Rahmenbedingungen.
- Fähigkeit, eine Arbeitsbeziehung positiv zu gestalten als Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit
- Theoretisches Verständnis zu inneren Prozessen, Ambivalenzen, Reaktanz, Verhaltensänderung, intrinsische Motivation, Drang nach Selbstwirksamkeit und Autonomie, Assimilation/Akkommodation, Widerstand aufgrund von Druck und Interpretation auf die gegebene Situation
- Wissen, wie auf den Klienten eingehen, sodass er sich auf den vorgeschlagenen Weg der PSA machen kann (den Klienten für die Kooperation gewinnen); Gesprächsführungstechniken kennen und gezielt anwenden können
- Den Klienten dort abholen, wo er sich gedanklich befindet und den Weg mit ihm zusammen zu gehen. Sich dabei die benötigte Zeit geben, nicht forcieren zu wollen und auf den Klienten eingehen zu können.
- Sich ihrem Auftrag (Bewährungshilfe, Soziale Arbeit) bewusst sein und bleiben bzw. professionelle Distanz halten (sich nicht persönlich mit dem Fall identifizieren)
- Sich des Spannungsfelds zwischen «Hilfe anbieten wollen» und «Selbstwirksamkeit des Klienten wahren» bewusst sein, es aushalten bzw. managen können
- Bewusstsein der eigenen Grenzen und (Handlungs-) Möglichkeiten, die Handlungsverantwortung grundsätzlich beim Klienten lassen.
RELATIONIERUNG
Was muss die PSA als Fachperson wissen und können, um auf die Ambivalenzen/Reaktanz des Klienten eingehen zu können bzw. in seinem wohlverstandenen Interesse zu handeln und dennoch an einer gesetzeskonformen Lösung zu arbeiten?
Die PSA hat gezeigt, dass sie fähig ist, die Arbeitsbeziehung zum Klienten positiv zu gestalten. Die Grundlage für eine wohlwollende Beziehungsbasis ist vorhanden. Dies zeigt sich in der zugewandten, freudigen Haltung, mit der der Klient in dieses letzte Gespräch kommt. Es zeigt sich auch im Bedauern der PSA, dass dies das letzte Gespräch mit dem Klienten ist. Die PSA zeigt durch ihre Hartnäckigkeit und auch, indem sie dem Klienten erläutert, weshalb das so wichtig ist, dass sie ihren Auftrag als Bewährungshelferin und als Professionelle der Sozialen Arbeit wahrnimmt: weitere Delinquenz vermeiden und Fürsorge im wohlverstandenen Interesse des Klienten wahrnehmen.
Das theoretische Verständnis zu Ambivalenz-, Reaktanz- und Verhaltensänderungsprozessen scheint in der Situation nicht vorhanden gewesen zu sein. Dies erklärt auch, warum sich die PSA zeitweise hilflos und ohnmächtig, persönlich enttäuscht und in der Lösung der Situation überfordert gefühlt hat. Ihr scheint in dem Moment das methodische Wissen in der Gesprächsführungstechnik (noch) gefehlt zu haben, mit dem Widerstand des Klienten mitzugehen, Druck wegzunehmen, eine bewusste Pause einzulegen. Die aufkommenden Gefühle der PSA zeigen, dass sie sich zeitweise nicht auf der Ebene der professionellen Distanz halten konnte, sondern sich zu stark mit der Situation identifiziert hat, zu sehr auf ihre Zielfestlegung fokussiert war, die sie eventuell «blind» für anderes (z.B. die Ambivalenz des Klienten, echtes Verständnis für seine Haltung und seine Reaktanz) gemacht hat. Die PSA scheint die Steuerung über die Situation deshalb temporär verloren, nach ihrem Gespräch mit der PA aber wieder zurückgewonnen zu haben.
5.6 Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen – Womit kann ich handeln?
Was muss die PSA als Fachperson wissen und können, um auf die Ambivalenzen/Reaktanz des Klienten eingehen zu können bzw. in seinem wohlverstandenen Interesse zu handeln und dennoch an einer gesetzeskonformen Lösung zu arbeiten?
Zeitlicher Rahmen
Bei der Bewährungshilfe wird grundsätzlich eine Stunde für ein Klientengespräch eingerechnet. Dies ist eine informelle Vorgabe, es ist im Einzelfall auch möglich mal mehr Zeit einzuplanen. Da jedoch oft vorher oder nachher auch Termine stattfinden, gilt die Stunde als Richtwert und hat sich so etabliert. Eine längere Sitzung müsste frühzeitig eingeplant und zeitlich reserviert werden.
Gesprächsort
Die Gespräche finden in der Regel im Büro der jeweiligen PSA statt, der/die das Gespräch führt. In Ausnahmefällen oder bei Gesprächen von PSA, die sich ein Büro teilen, wird frühzeitig geschaut, wo ein Raum / ein Büro frei ist.
Gesprächsleitfaden
Es gibt für Erstgespräche einen Leitfaden, welcher die Zusammenarbeit klärt und regelt (z.B. auch die Verschwiegenheit beinhaltet). Zudem gibt es als Vorgabe ein sog. «Bedarfsassessment», das in den ersten drei Monaten durchgearbeitet werden muss. Dieses besteht aus drei Teilen (Fragebogen, Interview, Auswertung) und hat zum Ziel, Risikobereiche und Schutzfaktoren zu identifizieren.
Dokumentation
über das elektronische System bei der Bewährungshilfe werden alle Gesprächsverläufe und Dokumente, die ausgetauscht werden, getrackt.
Rechtsdienst
Die Bewährungshilfe Solothurn hat eine interne Rechtsabteilung, auf die bei rechtlichen Fragen zugegriffen werden kann. In einem dringenden Fall ist dies auch aus einem Gespräch möglich, sollte diese gerade verfügbar sein.
Rücksprache / Absicherung bei Bedarf
Die PA befindet sich im Nebenbüro der Praktikantin und kann – bei Bedarf und Anwesenheit – beigezogen werden. Dasselbe gilt für weitere Teammitglieder, die nach Verfügbarkeit immer gerne bei Fragen helfen.
Entscheidungs- und Handlungsspielraum als Praktikant:in
Als Praktikantin genoss die PSA grösstmögliches Vertrauen und hat dadurch Handlungsspielraum für ihre Gespräche. Die PA weiss, dass die Praktikantin sich meldet, wenn sie eine Frage hat.
Vertretung nach Abschluss Praktikum
Es war die Abmachung, dass die Praktikantin ihre Dossiers der PA nach Ende des Praktikums übergibt. Erschwert wurde die Übergabe, da die PA vor Ende des Praktikums für drei Wochen in die Ferien ging und die Übergabe schriftlich gemacht werden musste. Zudem hat die PA mehrfach gegenüber diesem Klienten die sinngemässe Haltung vermittelt: «es hat keinen Sinn, die Baustellen sind zu gross, an diesem Punkt stand er schon vor Jahren.»
RELATIONIERUNG
Welche Voraussetzungen/Instrumente stehen der PSA zur Verfügung und was kann sie in der konkreten Situation nutzen, um im wohlverstandenen Interesse des Klienten zu handeln?
Die PSA wusste, dass die Zeit für ihr Anliegen mit der einen noch verfügbaren Gesprächsstunde mit dem Klienten sowie mit dem folgenden letzten Tag im Praktikum reichen musste. Sie wollte so viel wie möglich abschliessen, um so schnell wie möglich im wohlverstandenen Interesse des Klienten zu handeln und andererseits so wenig wie möglich übergeben zu müssen. Zudem spürte sie die eher verhaltene Haltung der PA ggü. dem Klienten, was Hilfestellung anbelangt, und hatte das Gefühl, dass diese sich evtl. nicht in selbem Masse für ihn einsetzen würde. Dies motivierte sie umso mehr, mindestens den Abschluss der neuen Krankenversicherung vorwärtszutreiben und damit das Gesundheitsrisiko für den Klienten abzufedern. Durch das entgegengebrachte Vertrauen der Organisation (Bewährungshilfe) hatte sie einen Gestaltungsspielraum, den sie im Sinne des Klienten nutzen wollte und auch konnte. Den internen Rechtsdienst hat sie allerdings nicht beigezogen. Ob aus zeitlichen Gründen oder ob sie nicht daran gedacht hat, ist unklar. Die PSA hat in ihrer Phase der Unsicherheit aber die Möglichkeit genutzt, sich mit der PA im Nebenbüro kurz abzusprechen / sich für ihr Vorgehen im Gespräch und betreffend ihrer Kompetenzen / ihrer Rolle abzusichern. Ihre Handlungsweise hat die PSA stets dem Prozess des Bedarfsassessment unterstellt, welcher den Rahmen bildet für die Klientenbetreuung bei der Bewährungshilfe mit dem Ziel, Risikobereiche und Schutzfaktoren zu identifizieren. Die PSA hat den Gesprächsverlauf im elektronischen System der Bewährungshilfe dokumentiert, sodass es der Nachfolgerin gut möglich ist, die Intervention weiterzuführen.
5.7 Wertewissen – Woraufhin richte ich mein Handeln aus? Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die ich als handelnde Fachperson berücksichtigen will?
Auf welches Wertewissen kann die PSA – auch im Hinblick des Zwangskontexts – zurückgreifen, während sie sich im Spannungsfeld zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Eigenverantwortung für den Klienten befindet?
Haltung gegenüber der Klientel
Die Bewährungshelfer:innen achten auf einen toleranten und wertschätzenden Umgang. Unter Berücksichtigung der Risikoorientierung werden in der Zusammenarbeit die Gesundheit, die Sicherheit und das Wohl der KlientInnen gewahrt (vgl. Standards und Indikatoren für die Bewährungsdienste 2023: 10).
Berufskodex
Aufgrund historischer Fakten vertritt Soziale Arbeit wirtschafts-, parteipolitische oder religiöse Interessen bis hin zu menschenrechtsrelevanten Themen, die Korruption, Menschenverachtung oder Diktaturen beinhalten können. Deshalb braucht es einen eigenen Ethikkodex, welcher unter anderem dazu dient, sich ethisch-moralisch von Zumutungen jeder Art oder auch Gesetzen distanzieren zu können (vgl. Staub-Bernasconi 2019: 88). Unabhängig von externen Einflüssen hat sich die Soziale Arbeit auf nationaler Basis weltweit überwiegend einen Ethikkodex gegeben. Auf internationaler Basis sind zu Beginn des 19. Jh. die Menschenrechte hinzugekommen, deren Verletzung von der Ethikkommission sanktioniert werden sollten (vgl. ebd.). Sanktionen sind notwendig, weil Soziale Arbeit je nach Problemsituation in den Lebenszusammenhang von Individuen, Familien, Gemeinwesen eingreifen muss, um ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Massnahme notfalls zu erzwingen, so z.B. beim Kindesschutz, in der Sozial-, Jugend- oder Bewährungshilfe (vgl. ebd.). Diese Eingriffe müssen gegenüber der Klientel rechtlich begründet und professionsethisch legitimiert werden (vgl. ebd.: 89).
AvenirSocial ist der Berufsverband der Sozialen Arbeit in der Schweiz, der den Berufs- bzw. Ethikkodex für Fachpersonen im sozialen Bereich herausgibt. Der Berufskodex stützt sich auf die internationalen ethischen Prinzipien des IFSW/IASSW (Global Standards for Social Work Education and Training 2004) (vgl. AvenirSocial 2010: 6). Zweck des Berufskodexes von AvenirSocial ist es, ethische Richtlinien für das moralische, berufliche Handeln in der Sozialen Arbeit darzulegen. Der Kodex dient als Orientierungshilfe bei der Entwicklung einer professionsethisch begründeten Berufshaltung und hilft, abgestützt Stellung zu beziehen. (vgl. ebd.: 5). Sozialarbeitende haben die grundsätzliche Aufgabe, ihr Handeln zu hinterfragen und Selbstreflexionsprozesse anzuregen. In schwierigen Situationen kann der Berufskodex Orientierung bieten, indem er umschreibt, über welches ethische Grundwissen professionelle Sozialarbeitende verfügen sollen (vgl. ebd.: 4).
Der Berufskodex spricht zudem die Aufgabe von Sozialarbeitenden an, soziale Notlagen von Menschen zu verhindern sowie Menschen zu schützen und zu sichern (vgl. ebd.: 7). Der Auftrag der Sozialen Arbeit wird als komplex beschrieben, der Umgang inklusive Interessenskollisionen ist als ‘Teil der Sozialen Arbeit’ formuliert (vgl. ebd.: 8). Spannungsfelder und Dilemmata im Berufsfeld sind unvermeidbar und zum Teil notwendig, wenn es darum geht, Anordnungen und Hilfsformen umzusetzen im Sinne des Schutzes und der Fürsorge für Adressatinnen oder Adressaten und gleichzeitig deren Selbstbestimmungsrecht bzw. -willen gerecht zu werden (vgl. ebd.).
Im Mittelpunkt steht die Freiheit – trotz Zwangskontext
Zwang ist eine Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit, nicht nur im Strafvollzug. Tätigkeiten in der Sozialen Arbeit sind vielfach mit Einschränkung von Handlungsfreiheit verbunden, auch wenn diese Einschränkungen nicht das Ziel sind (vgl. Lindenberg/Lutz 2021: 12). Im Mittelpunkt steht immer der Weg in die Freiheit als Ziel jedes Menschen. Auf dem Weg zur Freiheit müssen Menschen unterstützt werden, von der Unmündigkeit in die Mündigkeit geführt werden (vgl. ebd.: 48). Lindenberg/Lutz (vgl. ebd.) beschreiben es folgendermassen: «Freiheit ist die Entschliessung und der Mut, seinen Verstand ohne Leitung eines anderen zu nutzen.» Es ist also die Aufgabe von Begleitpersonen Klientinnen und Klienten, das selbstständige Denken zu ermöglichen und auf dem Weg in die Freiheit zu fördern (vgl. ebd.).
Ethisches Handeln
Der professionelle Alltag zwingt Fachpersonen in der Sozialen Arbeit immer wieder, normative und ethische Entscheidungen zu treffen. In konkreten Situationen gilt es, die Anforderungen beteiligter Personen, Gruppen und Organisationen gegeneinander abzuwägen sowie individuelle und gesellschaftliche Interessen und Wertevorstellungen zu berücksichtigen (vgl. Abplanalp/Cruceli/Disler/Pulver/Zwilling 2020: 56). Das Wissen um unterschiedliche Werte wird als Voraussetzung professionellen Handelns beschrieben (vgl. ebd.).
Wertewissen ist Beurteilungswissen und soll Fachkräften helfen, ihre Praxis übergreifenden Sinn- und Wertezusammenhängen zuzuordnen und mögliche Handlungsalternativen an den Attributen «gut», «schlecht», «angemessen», «unangemessen», «verantwortbar» und «unverantwortbar» auszurichten (Münchmeier 2012, zit. nach von Spiegel 2021: 63).
Soziale Arbeit bezieht sich auf sensible, verletzbare Bereiche des menschlichen (Privat-)Lebens (Müller 2010, zit. nach von Spiegel 2012: ebd.). Die Entscheidungen, die Professionelle der Sozialen Arbeit immer wieder treffen müssen, tangieren die Haltungen und Motive der Adressatinnen und Adressaten zum Teil empfindlich (vgl. von Spiegel 2021: ebd.).
Eine der Herausforderungen der Sozialen Arbeit ist es also, in die Lebenswelten der Adressatinnen und Adressaten einzugreifen, denn damit kommt immer auch eine moralische Dimension ins Spiel (vgl. Schneider 1999, zit. nach Eckstein/Gharwal 2016: 18). Weil das Handeln von Sozialarbeitenden einen grossen Einfluss auf Menschen und deren Lebenswelten hat, muss es auf einer gefestigten und begründbaren Grundlage erfolgen, welche mitunter die Ethik darstellt (vgl. Martin 2011, zit. nach ebd.).
Von Spiegel (2021: 63) erläutert, dass Professionelle der Sozialen Arbeit häufig nach ihren persönlichen Wertevorstellungen in die Lebenssituationen der Adressatinnen und Adressaten eingreifen und damit die unterstützende Hilfe zu einem kontrollierenden Eingriff machen. Von Professionellen der Sozialen Arbeit wird jedoch erwartet, dass sie ihre persönlichen Sinnkonstruktionen reflexiv zu beurteilen vermögen (vgl. ebd.).
Für die Qualität der Profession der Sozialen Arbeit ist es also wichtig, dass Beurteilungsmassstäbe nicht der individuellen Moral von Fachkräften überlassen werden. Ein formuliertes Wertewissen, welches als Leitplanke für die Fachkräfte dient, schützt deshalb vor einer allzu persönlich begründeten Hilfe bzw. vor individueller Willkür (vgl. ebd.). Rothmann (2013, zit. nach Eckstein/Gharwal 2016: 21) empfiehlt Professionellen der Sozialen Arbeit die regelmässige Auseinandersetzung mit dem Ethikkodizes und sogar, diesen in der Praxis stets griffbereit zu haben.
Im Sinne des Doppelten Mandats müssen sich Fachkräfte der Sozialen Arbeit zudem nicht nur an den Bedürfnissen und Rechten der Hilfesuchenden ausrichten, sondern auch gesellschaftliche und organisationale Interessen berücksichtigen, selbst wenn diese nicht den Wünschen oder den Bedürfnissen der Klientinnen oder Klienten entsprechen (vgl. Abplanalp/Cruceli/Disler/Pulver/Zwilling 2020: 59). Ein belastungsfähiges, berufsethisches Fundament, auf das sich Fachkräfte in Krisen- und Konfliktsituationen beziehen können, ist daher zentral (Preis 2006, zit. nach von Spiegel 2021: 64). Von Spiegel (2021) sieht die Berufsethik bestehend aus einer Sammlung begründeter Verhaltensleitlinien, denen sich Angehörige einer Profession verpflichten. Er verweist auf das ‘Wörterbuch Soziale Arbeit’ (Kreft/Mielenz 2012, zit. nach von Spiegel 2021: 66), welches einen Katalog von Handlungsleitlinien vorgibt, die als Orientierung für moralisch angemessenes Handeln gelten können. Zwei der Leitlinien sind:
- Respekt vor Autonomie, Integrität und Gleichberechtigung der Adressatinnen oder Adressaten
- Eigene Motive und Intentionen des Helfens reflektieren (Münchmeier 2012: 260, zit. nach von Spiegel 2021: 66).
Preis (2006, zit. nach von Spiegel 2021: 66) formuliert weiter zwölf ethische Handlungsmaxime, die je nach spezifischem Kontext in die ethische Reflexion mitgenommen werden sollten:
- Professionelle Selbstverpflichtung
- Achtung vor der Würde des Menschen
- Idee der Gerechtigkeit
- Authentizität
- Transparenz
- Anteilnahme
- Ergebnisoffenheit
- Konfliktbereitschaft
- Fachlichkeit
- Verantwortlichkeit
- Professionelle Distanz
- Allparteilichkeit
Es sollte das Ziel der Profession der Sozialen Arbeit sein, ein Ethikverständnis zu entwickeln, das im Dialog mit Adressatinnen oder Adressaten festgelegt wird (vgl. von Spiegel 2021: 66). Auch Silvia Staub Bernasconi (2019: 88) hält fest, dass man als Fachkraft den ‘gesunden Menschenverstand’, eigene Intuitionen, Alltagstheorien und Überzeugungen berücksichtigen darf, aber zugleich bereit sein muss, diese zu hinterfragen und je nachdem zu korrigieren.
Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession
Die Basis der Menschenrechte ist die Würde des Menschen. Menschenwürde meint allgemein betrachtet, dass jedem Menschen innerhalb der Gesellschaft ein Wert zukommt. Menschenwürde stellt damit den Wert eines Menschen dar (vgl. Mührel/Röh 2013, zit. nach Eckstein/Gharwal 2016: 16). Eng verbunden mit Menschenwürde ist der Faktor der Selbstbestimmung (vgl. Bielefeldt 2008, zit. nach ebd.). Ausgehend von der Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession konzipierte Silvia Staub-Bernasconi das Triple Mandat, welches neben dem doppelten Mandat (Hilfe/Kontrolle) als dritte Ebene den berufsspezifischen Ethikkodizes beizieht, welcher für Sozialarbeitende handlungsanleitend sein soll und Handlungen damit legitimiert (vgl. Staub-Bernasconi 2007, zit. nach ebd.: 17). Laut Brown (2008, zit. nach ebd.) beinhaltet das dritte Mandat das Mitwirken an sozialer Veränderung und soll als politisches Mandat helfen, gesellschaftlicher Missstände und Ungleichheiten zu beseitigen. Soziale Arbeit muss sich also kritisch mit dem Thema Menschenrecht befassen (vgl. ebd.).
Weil Sozialarbeitende oftmals mit uneindeutigen Fallkonstruktionen oder Dilemma-Situationen konfrontiert sind und nicht selten vor der Frage stehen, welche Entscheidung oder Vorgehensweise die bessere ist, kann es helfen, die Menschenrechte und die sozialarbeiterischen Prinzipien aus dem Berufskodex beizuziehen und dies mit einer Matrix einander gegenüberstellend darzustellen (vgl. Eckstein/Gharwal 2016: 24).
In der Entscheidungsfindung geht es darum, diese Menschenrechtsgüter und die berufsethischen Grundsätze gegeneinander abzuwägen, zu bestimmen, welcher Eingriff bzw. welche Verletzung weniger schwer wiegt (vgl. ebd.).
RELATIONIERUNG
Auf welches Wertewissen kann die PSA – auch im Hinblick des Zwangskontexts – zurückgreifen, während sie sich im Spannungsfeld zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Eigenverantwortung für den Klienten befindet?
Der Wunsch nach Selbstbestimmung des Klienten kommt in der Situation stark zum Tragen. Jedoch steht dieser in Konflikt mit den für die PSA relevanten Handlungsansätzen «Notlage verhindern», «Professionellen Auftrag wahrnehmen» und «Schutz und Fürsorge übernehmen». Die vorliegende Situation widerspiegelt das klassische Triple Mandat und zeigt die Wichtigkeit des Ethik- bzw. Berufskodizes als elementare bzw. äusserst wichtige dritte Dimension zum doppelten Mandat. Der Kodex kann der PSA helfen, ihr Handeln abzustützen, zu rechtfertigen und persönliche Willkür auszuschliessen, indem sie sich bewusst ist, dass es normal ist, dass Entscheidungen von Fachkräften in der Sozialen Arbeit immer wieder Haltungen, Motive und Lebenswelten von Klientinnen und Klienten zum Teil empfindlich tangieren werden. Der Kodex kann der PSA auch helfen, sich der Komplexität ihres Auftrags immer wieder bewusst zu werden und damit auch die Durchsetzung von Entscheidungen, welche (noch) nicht im Sinne einer Klientin oder eines Klienten sind, als berufsbedingt unvermeidbar und z.T. als notwendig zu betrachten. Es ist wichtig, dass die PSA die Einschränkung von Handlungsfreiheiten oder gar Zwang als Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit annehmen kann. Wichtig ist es dabei aber, dass sie sich dieses «Eingriffs» in die sensiblen Lebenssituationen von Klienten ständig bewusst ist, der Wahrung der Selbstbestimmung immer Rechnung getragen wird und die persönliche Reflexion ein Teil ihrer professionellen Haltung bildet.
Das sich-immer-wieder-bewusst-machen dieser Spannungsfelder, die unvermeidbar und zum Teil notwendig sind, wenn es darum geht, den professionellen Auftrag wahrzunehmen und gleichzeitig das Selbstbestimmungsrecht einer Klientin/eines Klienten wahren zu wollen, kann der PSA helfen, innere ambivalente Gefühle zu neutralisieren und sich emotional nicht zu stark in die Klientensituation hineinzugeben. Sprich: Eine professionelle Distanz wahren zu können. Immer mit dem Ziel, Adressatinnen oder Adressaten auf dem Weg in die Freiheit, auf dem Weg von der (Teil-)Unmündigkeit in die Mündigkeit, zu führen. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, den Klienten dabei zu unterstützen, selbst den rechtmässigen und unvermeidlichen Weg in die Freiheit zu erkennen, was in seinem Prozess der Einsicht und der Veränderung etwas mehr Zeit braucht.
Das Wissen um unterschiedliche Wertehaltungen ist eine der Voraussetzungen in der professionellen Sozialen Arbeit. Die PSA spürt in der Situation, dass sie Entscheide trifft oder treffen will, die vom Klienten nicht oder noch nicht für gut befunden werden.
Das Anwenden der Matrix und die Gegenüberstellung der Menschenrechtsgüter und die Maximen der Sozialen Arbeit bzw. weitere Rahmenfaktoren als Unterstützung/Rechtfertigung für die Handlungsweise der PSA zeigen folgendes Bild:
Dilemma | Erwartbare, hohe Rückzahlungen für Klient / grosse finanzielle und psychische Belastung | Wahrung der gesetzlichen Vorschriften |
Übersetzung in Menschenrechte / berufsethische Grundsätze | Wahrung der Selbstbestimmung bzw. des Selbstbestimmungsrechts | Rechtsgleichheit: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 8 BV). Krankenkassenobligatorium für in der Schweiz wohnhafte Bürgerinnen und Bürger. |
Verhältnismässigkeitsprüfung und Eingriffsrechtfertigung | Menschenwürde bedeutet, dass jedem Menschen ein Wert innerhalb der Gesellschaft zukommt. Damit eng verbunden ist die Selbstbestimmung des Menschen. | Es gilt, die Rechtsgleichheit gemäss Bundesverfassung zu wahren. |
Die PSA hat also – zu einem Teil wohl mehr aus einem Bauchgefühl heraus – richtig entschieden. Die Schweizer Bundesverfassung mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit steht aus Sicht der PSA über der Angst vor grösseren Schulden und dem Selbstbestimmungsrecht und es ist richtig, als Sozialarbeitende/r durchzusetzen, dass die ausstehenden Zahlungen rechtmässig entrichtet (zurückbezahlt) werden und eine gültige Krankenkassenpolice erwirkt wird. Wenn es der PSA noch möglich ist, die Rückzahlungen abzuschwächen, zeigt dies, dass sie dennoch bestmöglich auf die Würde/das Bedürfnis des Klienten eingeht und alles tut, um den Schaden für ihn so gering wie möglich zu halten.
Struktur-Qualität
- Die PSA handelt nach dem gesetzlichen Auftrag und in ihrer professionellen Rolle als Sozialarbeiterin.
Prozess-Qualität
- Die PSA nutzt die gute Beziehung zum Klienten als positive Gesprächsbasis.
- Die PSA ist fähig, den Klienten mit entsprechenden Methoden zu einer Verhaltensänderung zu motivieren.
- Der Beratungsprozess ist so gestaltet, dass der Klient genügend Zeit hat, seine Ambivalenz zu erkunden und in die Selbstwirksamkeit zu kommen.
- Die PSA übernimmt im Sinne des gesetzlichen Auftrags und in ihrer Rolle als Sozialarbeiterin Verantwortung, indem sie dem Klienten Konsequenzen seines Verhaltens aufzeigt und ihm die Möglichkeit gibt, sich aktiv zu entscheiden.
- Die PSA nutzt eigene Ambivalenzen aktiv, um im Spannungsfeld zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Eigenverantwortung der Klientel professionell und handlungsfähig zu bleiben.
Ergebnis-Qualität
- Der PSA gelingt es, zukünftige Schädigungen der KlientInnen selbst oder deren Umfeld sowie Verletzungen von gesetzlichen Vorgaben durch Anwendung adäquater Beratungsmethoden zu vermeiden.
- Die PSA handelt nach dem gesetzlichen Auftrag und in ihrer professionellen Rolle als Sozialarbeiterin.
Dieser Qualitäts-Standard wird von der PSA erfüllt. Sie handelt nach dem gesetzlichen Auftrag als Bewährungshelferin (erneute Delinquenz vermeiden), indem sie ihn darüber informiert, dass er sich mit seinem Verhalten strafbar macht und in ihrer professionellen Rolle (Schutz und Fürsorge), indem sie ihn darauf hinweist, dass er ein hohes finanzielles Risiko eingeht, keine Krankenversicherung zu haben. Die PSA treibt – nachdem sie dem Klienten mehrere Monate Zeit gelassen hat, sich gemäss seinem Wunsch selbst um das Thema zu kümmern – die Organisation einer neuen Krankenversicherung selbst voran. Sie greift damit zwar in seine Selbstwirksamkeit ein, stellt jedoch das professionell begründete Ziel nach Schutz und Fürsorge sowie dem Schaffen der sozialen Gerechtigkeit und dem Vermeiden einer erneuten Delinquenz über diesen Aspekt.
Indem die PSA persönlich mit dem Broker spricht und diesem ggü. erklärt, dass sie Hrn. G. in ihrer professionellen Rolle in diversen Belangen unterstützt, zeigt sie Engagement im wohlverstandenen Interesse des Klienten und signalisiert ggü. dem Klienten auch, dass sie sich um ihn sorgt und versucht, seine Interessen zu wahren. Im kurzen Gespräch mit der PA holt sie sich in ihrer Frustration aufgrund der fortwährenden Reaktanz des Klienten Rat, klärt ihre Rolle und sichert sich betreffend ihrer Kompetenz/Verantwortung ab. Dadurch gelingt es ihr, sich vor einer zu starken Identifikation mit dem Schicksal des Klienten zu schützen, sich die Bestätigung zu geben, auch dann professionell zu handeln, wenn sie keine Krankenversicherung erwirken kann und kann somit gelassener und mit einer professionellen Distanz zurück zum Gespräch gehen, mit der sie dieses im Anschluss weiterführt. Die PSA handelt in der Situation im dreifachen Mandat: Dem Wahren des Interesses des Klienten, dem Ausführen des Auftrags, der von der Bewährungshilfe vorgegeben ist und im Versuch, unter Berücksichtigung der Berufsethik und der sozialen Gerechtigkeit zu handeln.
- Die PSA nutzt die gute Beziehung zum Klienten als positive Gesprächsbasis.
Dieser Qualitäts-Standard wird von der PSA erfüllt. In der Situation zeigt sich, dass die Beziehung zwischen der PSA und dem Klienten eine tragfähige und gute Basis darstellt. Der Klient freut sich auf das Gespräch und spürt, dass eine «Connection» entstanden ist über die letzten Monate. Auch dass die PSA bedauert, dass es zum Ende der Praxisphase hin das letzte Gespräch ist, zeugt von einer guten Beziehung. Das Vertrauen seitens des Klienten ist nötig, um den Entwicklungsschritt im Veränderungsprozess hin zum vorgeschlagenen Weg der PSA zu machen, auch wenn es für den Klienten mit grossem Druck hinsichtlich der bereits schwierigen finanziellen Lage verbunden ist. Im Gegenzug unterstreicht die PSA ihre Wertschätzung ggü. dem Klienten, indem sie ihn in seinem wohlverstandenen Interesse davor schützt, sich erneut strafbar zu machen. Sie informiert ihn transparent über den Sachverhalt, soweit ihr Kenntnisstand reicht, und setzt sich stark dafür ein, dass der Klient umgehend eine gültige KK-Police hat und damit für gesundheitliche Risiken versichert ist. Indem die PSA dem Klienten verspricht, mit der Krankenkasse über eine Rückzahlungsvereinbarung zu sprechen, was für den Klienten sehr wichtig ist, zeigt sie erneut, dass ihr an seinem Wohlergehen liegt.
- Die PSA ist fähig, den Klienten mit entsprechenden Methoden zu einer Verhaltensänderung zu motivieren.
Dieser Qualitäts-Standard wird von der PSA zum Teil erfüllt. Die PSA schafft Vertrauen und eine gute Arbeitsbeziehung durch Empathie, aktives Zuhören und echtes Verständnis, welches sie dem Klienten gegenüber zeigt. Sie anerkennt ihn ausserdem in seinen Ressourcen und gibt ihm einen Vertrauensvorschuss dadurch, dass sie dem klienteneigenen Lösungsansatz mit dem Broker Zeit gibt. Durch erfährt der Klient seine Selbstwirksamkeit.
Weiterhin ist die PSA ehrlich und transparent in ihren Pflichten, bezüglich den Gesetzesvorgaben und allen Konsequenzen der möglichen Handlungen des Klienten. Das gibt ihm die Grundlage, eine valide Entscheidung zu treffen. Die Pause, die die PSA sich selbst und damit unbewusst auch dem Klienten gibt, lässt ihm die Zeit, um zu Reflektieren und seine Handlungsmöglichkeiten abzuwägen. Nach dieser Pause teilt die PSA ihm offen ihre Emotionen und Kognitionen zu seinem Verhalten mit. Sprich: Ihre Enttäuschung darüber, dass er nicht bereit ist, diesen wichtigen Schritt zu gehen, nach dem sie sich so für ihn eingesetzt hat. Zudem zeigt sie ihm nochmals die Konsequenzen seines Handelns auf und dass er die Krankenkassenpolice unterschreiben müsse, wenn er sich nicht erneut strafbar machen wolle. Dies scheint ihn schliesslich vollends zu überzeugen, diese Entscheidungsmöglichkeit nun auch wirklich zu treffen, auch wenn er immer noch die damit einhergehenden neuen Schulden fürchtet. Die PSA zeigt ihm letztendlich aber auf, dass er ihr auch in dieser Beziehung vertrauen kann, in dem sie Wege sucht, die Schulden einzugrenzen, die auf ihn zukommen, obwohl diese von Rechtswegen unabdingbar wären. Nur zum Teil erfüllt ist dieser Q-Standard aber, weil die PSA zwar die gewünschte Verhaltensänderung beim Klienten erwirkt hat, dies aber durch vorwiegend intuitives Verhalten und nicht gestützt auf theoretischem Wissen und erprobten Methoden.
- Der Beratungsprozess ist so gestaltet, dass der Klient genügend Zeit hat, seine Ambivalenz zu erkunden und in die Selbstwirksamkeit zu kommen.
Der bisherige Verlauf der Zusammenarbeit der PSA mit dem Klienten zeigt ein bestehendes Vertrauensverhältnis. Trotz Einsicht des Klienten, dass er eine Krankenkassenversicherung abschliessen muss, ist er aufgrund der hohen Rückzahlungskosten sehr bemüht, einen Weg zu finden, diese Kosten zu umgehen. Er hat zwar in der Vergangenheit viel Zeit gehabt, seinen Weg zu verfolgen, allerdings verlief dies ergebnislos. In der aktuellen Schlüsselsituation fühlt er hohen Druck, dieses Thema abzuschliessen. Auch das Wissen, das die ihm vertraute Begleitperson (PSA) nach dem aktuellen Termin nicht mehr verfügbar ist, erhöht diesen Druck. Im Gespräch hat er spürbar keine kognitive Kapazität, um die Lösung der PSA innerlich zu akzeptieren und möchte weiterhin seinen Weg gehen. Durch die Pause, welche die PSA mehr zufällig als geplant durchführt, passiert dann beim Klienten sehr viel. Er spürt wahrscheinlich nebst dem Druck auch Resignation, Notwendigkeit und auch innerlichen Aufbruch (Motivation). Dies führt dazu, dass er sich innerhalb kurzer Zeit durchringen kann, die Lösung der PSA zu akzeptieren und somit in die Selbstwirksamkeit gehen kann. Letztlich kann die Frage nach der zielführenden Gestaltung des Beratungsprozesses mit «Ja» beantwortet werden, obwohl der mitunter wichtige Faktor der Pause eher zufällig Teil des Prozesses war. Wichtig zu erwähnen ist aber, dass schon vor dieser Pause ganz viele Faktoren im Beratungsprozess stattgefunden haben, welche es erst ermöglicht haben, dass die Pause die genannte Wirkung gezeigt hat. Dieser Qualitäts-Standard wird von der PSA insgesamt zum Teil erfüllt, da sich durch die gesamte Situation ein vorhandener Zeitdruck abzeichnet, der einerseits durch das Praktikumsende bedingt ist, andererseits aber auch in der Haltung der PSA, ihr sich gestecktes Ziel an diesem Tag erreichen zu wollen. Wäre sie sich bewusst gewesen, dass Druck oft das Gegenteil vom gewünschten Ergebnis erzielt, wäre sie in der Lage gewesen, diesen Druck zu reduzieren. Beispielsweise, indem sich die PSA schon früher zusammen mit dem Klienten auf den Weg gemacht hätte, seine Ambivalenz zu erkunden (was vorausgesetzt hätte, dass sie sich der Ambivalenz und der dadurch verzögerten Bereitschaft zur Verhaltensänderung bewusst gewesen wäre) oder indem sie die Pendenz der offenen Krankenversicherungspolice nach ihrem Austritt aus der Organisation der PA übergeben hätte, die den Klienten danach betreut.
- Die PSA übernimmt im Sinne des gesetzlichen Auftrags und in ihrer Rolle als Sozialarbeiterin Verantwortung, indem sie dem Klienten Konsequenzen seines Verhaltens aufzeigt und ihm die Möglichkeit gibt, sich aktiv zu entscheiden.
Dieser Qualitäts-Standard wird von der PSA vollumfänglich erfüllt. Die PSA erklärt dem Klienten zurück aus dem Kurzgespräch mit der PA, dass es ihr Sorgen bereite, dass der Klient keinen Krankenversicherungsschutz hat. Sie erläutert ihm weiter, dass er – sofern er sich nicht erneut strafbar machen will – sich jetzt korrekt verhalten muss. Im Wissen, dass jede in der Schweiz wohnhafte Person der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegt. Die PSA konfrontiert den Klienten mit der Tatsache, dass er darum wissen musste, keinen Schutz mehr zu haben, indem er über längere Zeit keine Rechnungen mehr erhalten (bezahlt) hat und demzufolge hätte reagieren können. Sie appelliert weiter an seinen Willen, sich künftig straffrei zu verhalten – auch wenn dies bedeute, dass zusätzliche (hohe) Kosten auf ihn zukommen können. Mit dieser Transparenz zeigt sie ihm Wertschätzung, den Willen, sich für ihn einzusetzen und auch, dass sie an seinen gesunden Menschenverstand glaubt. Sie gibt ihm nochmals die Möglichkeit, sich aktiv zu entscheiden.
- Die PSA nutzt eigene Ambivalenzen aktiv, um im Spannungsfeld zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Eigenverantwortung der Klientel professionell und handlungsfähig zu bleiben.
Dieser Qualitäts-Standard wird von der PSA nicht erfüllt. Die PSA hat ihre Ohnmacht, ihre Verärgerung und Hilflosigkeit in der Situation nicht eindeutig als persönliche Ambivalenz identifiziert und war damit auch nicht fähig, ihre Gefühlslage einzuordnen, ihren Gefühlen professionell zu begegnen bzw. das gefühlte Spannungsfeld als «von der Profession gegeben» zu sehen. Ihre spontane Reaktion aber, die sich aus der temporären Überforderung ergeben hat, war, sich kurz aus dem Gespräch zurückzuziehen und die PA im Nebenbüro um Rat zu fragen. Damit hat sie gezeigt, dass sie intuitiv lösungsfähig ist. Indem die PA ihr die Grenzen ihres Verantwortungsbereichs aufzeigt und erläutert, dass der Klient selbst entscheiden kann, was er tun will, kann sie sich entspannen und gewinnt ihre Handlungsfähigkeit und professionelle Haltung (Regulation der eigenen Emotionen, Abtreten der Verantwortung, dem Klienten seinen Willen lassen) zurück. Es gelingt der PSA – allerdings mehr aus einer unbewussten Handlung heraus als durch bewusstes Agieren – ihre Handlungsfähigkeit und die professionelle Entspanntheit zurückzugewinnen.
- Der PSA gelingt es, zukünftige Schädigungen der KlientInnen selbst oder deren Umfeld sowie Verletzungen von gesetzlichen Vorgaben durch Anwendung adäquater Beratungsmethoden zu vermeiden.
Dieser Q-Standard wird von der PSA zum Teil erfüllt. Die PSA hat den Klienten letztendlich davon überzeugt, die Krankenversicherung abzuschliessen und ihn damit gegen noch höhere Schulden abgesichert, die durch eine, nicht allzu unwahrscheinlich wirkende, Erkrankung des Klienten bei gleichzeitiger nicht-Versicherung entstehen würden. Die Methode, die sie dabei unbewusst eingesetzt hat, sind eine transparente Kommunikation inklusive des Aufzeigens der Konsequenzen der Handlungen des Klienten. Finanzielle Schäden sind, durch die fälligen Rückzahlungen, nicht zu vermeiden, doch dennoch versucht die PSA, diese einzugrenzen. Ihr ist es wichtiger, dass die als instabil einzuschätzende Gesundheit des Klienten abgesichert ist und er durch einen Krankheitsfall nicht noch höher verschuldet wird. Dadurch gelingt es ihr, zukünftige gesundheitliche Schädigungen des Klienten, die nicht zu vermeiden sind, abzusichern und auch, dass er sich nicht länger rechtlich schuldhaft verhält und damit wieder delinquent wird. Frühzeitige Absicherungen mit dem Rechtsdienst bzw. Fachpersonen in rechtlichen Belangen würden der PSA zukünftig helfen, ihre Handlungsweise abzusichern und in der Beratung kompetent und rechtlich abgestützt aufzutreten.
Auf den Klienten eingehen / Mit dem Widerstand gehen
Die Situation hätte sich für die PSA zufriedenstellender entwickeln können, wenn sie dort angesetzt hätte, wo sich der Klient befindet. Den gefühlten Widerstand des Klienten hätte die PSA in der Situation als Signal nutzen können, ihre eigene Position zu verändern, sich auf diejenige des Klienten einzulassen, Verständnis für seinen Weg zu zeigen (Mit dem Widerstand gehen, Argumente «pro change» vermeiden, da meist kontraproduktiv). Es kann auch dienlich sein, mit dem Klienten zusammen nochmals die Ziele zu definieren, sodass sowohl PSA und Klient die Sicherheit haben, dasselbe Ziel zu verfolgen. Wenn die PSA spürt, dass ihre Haltung, zu wissen was für den Klienten richtig ist, durchzudrücken droht, dann kann es ihr helfen, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass Hilfe nur dann stattfinden kann, wenn diese gewollt ist (der Klient also widerstandslos bereit dafür ist). Die PSA hätte den Prozess des Klienten, der im Veränderungsprozess stecken geblieben ist, methodisch bewusst in die gewünschte Richtung steuern, mit ihm seine Ambivalenz gemeinsam erforschen können. Mit der Chance, dass sich der Klient durch das «auf-ihn-eingehen» von sich aus (früher) in einen «Change Talk» begeben hätte und die gewünschten Veränderungsschritte hätte machen können. So kann letztendlich die vorhandene intrinsische Motivation des KL in die richtige, straffreie Richtung geleitet werden. Vor allem, da man in diesem Fall davon ausgehen kann, dass der Klient eigentlich weiss, welcher der «korrekte» Weg wäre und auch auf diesem wandeln möchte.
Sich auf die Position des Klienten einzulassen hätte auch bedeutet, sich Zeit zu nehmen für seine Gefühle, diesen empathisch und wertschätzend zu begegnen. Die PSA hätte beim Wahrnehmen der (fortwährenden Reaktanz) auf die Ambivalenz des Klienten eingehen und (mit offenen Fragen) in Erfahrung bringen können: «Was fühlen Sie jetzt?», «Was denken Sie jetzt?» (auch Details sind hier wichtig). Im Wissen, dass es für innere Einwände Gründe gibt, die aus dem Weg geräumt werden müssen, um weiter vorwärts gehen zu können. Mit gezielter Fragestellung hätte sie diese Gründe identifizieren und die Einwände möglicherweise schneller abbauen können. Aufmerksames (Aktives) Zuhören durch die PSA hätte als Methodik zudem helfen können, sich auf die Reaktanz des Klienten einzulassen, ihm (oder dem Widerstand) Aufmerksamkeit zu schenken bzw. die Gründe dafür zu erforschen und mit ihm gezielt zu bearbeiten (gerade im Zwangskontext besonders wichtig, da die Veränderungsbereitschaft oft nicht gegeben ist).
Hilfreich für das Verstehen der Haltung des Gegenübers kann auch sein, sich als PSA im Hinblick auf einen Beratungsprozess mit den Lebenswelten und der Sozialisierung einer Klientin bzw. eines Klienten zu beschäftigen: Gibt es möglicherweise Unterschiede zur Kultur, der Lebenswelt oder den Glaubenssätzen, welche die PSA hat? Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede, die unter Umständen Erklärung für ein Verhalten bringen können? Beispielsweise könnte eine männlich sozialisierte Person mit Migrationshintergrund aus einer stark patriarchischen Kultur womöglich andere Bewältigungsstrategien und Glaubenssätze als eine weibliche, in der Schweiz aufgewachsene Professionelle der Sozialen Arbeit haben. Das Bewusstmachen eines möglichen Unterschieds und allgemein eine offene Haltung gegenüber anderen Lebensrealitäten kann im Beratungsprozess unterstützend und verhaltenserklärend sein.
Zeit geben, Pausen einplanen
Auf den Klienten einzugehen, bedeutet auch, dem Prozess und der Begleitung die benötigte Zeit einzuräumen. Möglicherweise steckte der Klient bereits mitten im Auflösungsprozess seiner Ambivalenz und befand sich auf dem Weg, seine Selbstwirksamkeit wiederzuerlangen, nur halt in seinem (langsameren) Tempo. Indem die PSA weniger (gefühlten) Druck ausgeübt hätte, hätte der Klient seinen Veränderungsprozess womöglich früher/besser machen können bzw. der Widerstand hätte sich eventuell früher gelöst. Die PSA könnte in einer zukünftigen Situation also bewusst Zeit einräumen (z.B. mit einer bewusst eingelegten (Nachdenk-)Pause), die in einem Veränderungsprozess viel Positives auslösen kann) und für ein Vorankommen womöglich dienlicher ist als das (unbewusste) Ausüben von Druck.
Beraten mit Rechtsdienst
In zukünftigen vergleichbaren Situationen könnte sich die PSA frühzeitig bzw. zeitnah oder parallel zu den Beratungsterminen mit dem Klienten beim Rechtsdienst des Amts für Justizvollzug den Austausch suchen. Dies, um einerseits Sicherheit zu erlangen über ihre eigene Verantwortung als Bewährungshelferin und andererseits, um Impulse zu erhalten, wie die Situation zum wohlverstandenen Interesse des Klienten gelöst werden kann. Ein Austausch mit dem internen Rechtsdienst (oder mit anderen Fachpersonen zum Thema Recht) würden der PSA zudem ermöglichen, den Argumentationsstrang gegenüber dem Klienten zu schärfen bzw. ihm rechtlich abgestützt darzulegen, was seine Situation bedeutet und was die Konsequenzen seines Verhaltens sein können.
Beizug einer Schuldenberatung
Das Wissen um den möglichen Beizug einer Schuldenberatung und die intakten Chancen, in der Situation nur einen Teil der Schulden zurückzahlen zu müssen, hätte dem Klienten eine Perspektive geben können in seiner Angst, zwingend den ganzen versäumten Betrag zurückzahlen zu müssen. Diese Perspektive hätte ihn womöglich früher dazu bringen können, den von der PSA vorgeschlagenen Weg gemeinsam mit ihr zu beschreiten. Das Wissen um die Möglichkeit des Kontakts mit der Schuldenberatung könnte in der Weiterführung der Situation oder in einer anderen vergleichbaren Situation helfen, den komplexen Fall noch besser im wohlverstandenen Interesse des Klienten zu lösen.
Persönliche Ambivalenz erkennen und aktiv managen
Die PSA kann sich immer wieder vor Augen führen, dass die Tätigkeiten in der Sozialen Arbeit grundsätzlich strukturellen Ambivalenzen unterworfen sind und oft Einschränkungen der Handlungsfreiheit für Klientinnen und Klienten bedeuten. Dieses Wissen kann der PSA helfen, eine gesunde Gelassenheit zu wahren und drohende, aufkommende Ambivalenzen einzuordnen, aushalten, aktiv managen und ggf. ausmerzen zu können. Damit kann die PSA auf der professionellen Ebene bleiben und dürfte sich weniger dazu verleiten lassen, als Fachkraft selbst in eine Situation der Ambivalenz und/oder Hilflosigkeit zu kommen.
Spannungsfelder und Interessenskollisionen als Teil der Sozialen Arbeit anerkennen / Ethische Grundlage (Berufskodex)
Das Wissen, dass sich soziale Arbeit sehr oft an der Grenze zwischen Macht, dem Spannungsfeld des Triple Mandats und Ambivalenzen zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Selbstverantwortung bewegt, hilft der PSA zukünftig, sich weniger oder nicht mehr in lähmenden Gefühlen zu verstricken sondern die Energie umzunutzen und sich auf professioneller Ebene zu überlegen, wie dem Spannungsfeld begegnet werden kann, um handlungsfähig zu bleiben und sowohl dem wohlverstandenen Interesse des Klienten wie auch dem eigenen Auftrag gerecht zu werden. Das Wissen, das Zwang und/oder Einschränkungen der Handlungsfreiheit für Klientinnen und Klienten unumgänglich sind, u.a. der Berufskodex und weitere Möglichkeiten helfen, das professionelle Handeln abzustützen und damit Handeln zu rechtfertigen und Willkür zu vermeiden, kann in der professionellen Arbeit Sicherheit vermitteln, die Resilienz und die Professionelle Haltung stärken. Hilfreich kann es sein, das Ethikverständnis zwischen PSA und Klientin/Klienten im Dialog festzulegen.
Die PSA kann sich zudem auf Entscheidungshilfen stützen, die ihre Handlungsweise rechtfertigen (siehe Punkt «Qualitätssicherung der Entscheide» und sich damit die Bestätigung geben, in fachlich korrektem Sinne gehandelt und entschieden zu haben, auch wenn die Entscheide mit Einschränkungen für die Klientel verbunden sind oder gegen den Willen dieser erfolgen.
Verantwortung beim Klientel lassen
Für die PSA ist es wichtig, zu wissen, dass es nicht ratsam ist, nicht zu viel Verantwortung zu übernehmen in einem Prozess. Geschieht dies doch, kann der «Bumerang» zurückkommen und der Klient könnte die PSA dafür verantwortlich machen, die falsche Methode angewandt zu haben. Dies bedeutet für die PSA: Die Verantwortung beim Klienten lassen, ihn aber in seinem Prozess (z.B. mit gezielten W-Fragen) unterstützen und begleiten, den Weg selbstwirksam gehen zu können.
Lösungsorientierter Beratungsansatz / Gesprächsführungstechnik allgemein
Mit dem Kennen und bewusst Anwenden einer Gesprächsführungstechnik hätte die PSA die «Problem-Diskussionen» mit dem Klienten (der gefühlt nur «Baustellen» hat) bewusst in eine stärker lösungsorientiere, positive Richtung steuern können und die Situation der Reaktanz methodisch auflösen können. Beispielsweise, indem sie die Erfolge, die Kompetenzen, die Fertigkeiten des Klienten noch stärker wertgeschätzt und gewürdigt hätte. Diese dadurch möglicherweise erzeugte innere Freude, hätte beim Klienten einen neuen Antrieb/intrinsische Motivation für Veränderung wecken können, anstatt sich immer wieder um die bekannten Probleme zu drehen. Die PSA hätte methodisch bewusst lösungsorientierte Fragen einbauen können, wie z.B. die Skalierungsfragen (wo befindet sich der Klient von 1 – 10), um die kleinen Fortschritte des Klienten zu würdigen, oder mit der Wunderfrage (wie sähe seine Welt aus, wenn alle Probleme am nächsten Morgen weg wären) oder mit Perspektivenwechseln (wie würde seine Cousine / seine Tochter ihn beschreiben?). Die PSA hätte auch in der Vergangenheit forschen können nach herausfordernden Situationen, die der Klient bereits (erfolgreich) gelöst hat oder nach Eigenschaften, die bei Anderen Komplimente ausgelöst haben. Davon zu erzählen, hätte den Klienten u.U. gestärkt in seiner intrinsischen Motivation, auch die aktuellen Herausforderungen zu meistern / meistern zu können.
Kritische Selbstreflexion – ethischen Grundlage als Basis
Das Wissen um unterschiedliche Werte muss in der Grundhaltung von Professionellen der Sozialen Arbeit verankert sein. Zum Schutz vor Willkür und zur Rechtfertigung des professionellen Handelns, welches unterstützende Hilfe nicht selten zum kontrollierenden Eingriff macht, ist eine wiederkehrende Auseinandersetzung mit dem Werte- und Ethikkodex als gefestigte und begründbare Grundlage Voraussetzung für Professionelle der Sozialen Arbeit.
Es ist in Ordnung, auch nach gesundem Menschenverstand zu handeln, aber dabei sehr wichtig, das eigene Handeln und die persönlichen Sinnkonstruktionen immer wieder kritisch zu hinterfragen / reflexiv zu beurteilen und gegebenenfalls zu korrigieren.
Qualitätssicherung der Entscheide
Um Sicherheit in der Entscheidungsfindung zu erlangen bzw. insbesondere dann, wenn Entscheidungen offensichtlich Vor- und Nachteile mit sich bringen oder sich die Ziele zwischen Verantwortungsübernahme und Wahrung der Eigenverantwortung widersprechen, kann die PSA verschiedene Hilfsmittel beiziehen, um ihren Entscheid abzustützen, so z.B.
- Überprüfung der Entscheide auf die Kriterien «gut», «schlecht», «angemessen», «unangemessen», «verantwortbar» und «unverantwortbar».
- Überprüfung der Entscheide nach ethischen Handlungsleitlinien im Sinne des moralischen Handelns und kritische Reflexion der Handlungsmaximen wie z.B. «Gerechtigkeit», «Transparenz», Anteilnahme», «Verantwortlichkeit» oder «professionelle Distanz».
Gegenüberstellung der Dilemma-Situation in Form einer Matrix, welche die Fallkonstruktion aufschlüsseln und helfen kann, die Grundsätze der Menschenrechte (inkl. Selbstwirksamkeit) und die sozialen Prinzipien bzw. den professionellen Auftrag einander gegenüberzustellen. Diese Abwägung der Grundsätze kann helfen, zu bestimmen, welcher Eingriff weniger schwer wiegt bzw. der PSA die Sicherheit zu geben, die richtigen Entscheide zu treffen.
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