Zurück zu den Schlüsselsituationen
Essenssituation gestalten / Jugendwohnheim
- Es handelt sich um eine Gruppensituation
- Das gemeinsame Essen bildet als “soziales Gefäss” einen Fixpunkt im Tagesablauf (Frühstück, Mittagessen, Abendessen, Pausenmahlzeiten)
- Die PSA und Klient*Innen können unterschiedliche Norm- und Wertvorstellungen bezüglich des Essens und der Essenssituation haben
- Die Institution verfügt über explizite oder auch implizite Abläufe und/oder Regeln zur Essenssituation, welche für alle (PSA und Klient*innen) in der Institution tätigen bzw. lebenden Personen grundsätzlich Gültigkeit haben
- Es sind individuelle Bedürfnisse der Klient*Innen vorhanden, die situativ von den PSA beachtet werden müssen (Diät/Allergien, Sitzplatz, Gemütszustand, Beeinträchtigung usw.)
In einem Schulheim für verhaltensauffällige Jugendliche kommt es bei den Essenssituationen oft zu lauten Diskussionen und Auseinandersetzungen. In der letzten Zeit beschäftigte sich ein Teil der 14-15- Jährigen ausführlich mit den Themen 2. Weltkrieg und Nationalsozialismus. Gewisse Jugendliche erhielten in der Woche zuvor Sanktionen, weil sie mit rassistischen Symbolen auf Spielsachen vom Werkunterricht zurück auf die Gruppe kamen.
Erste Sequenz: Aufrechterhalten der Strukturen
Als alle Jugendlichen am Mittagstisch sitzen und darauf warten mit dem Essen beginnen zu können, bemerkt die Sozialpädagogin, dass A., welcher ihr gegenüber sitzt, in einer dicken, mit Pelz gefütterten Jacke Platz genommen hat. Sie bittet ihn, die Jacke auszuziehen und erinnert ihn an die Regeln und die Winterzeit. Nach einem kurzen Wortgefecht zieht der Jugendliche A. widerwillig seine Jacke aus.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Fühlt sich provoziert, ungeduldig, ebenfalls hungrig
- Emotion Professionelle/r: Hungrig, ein wenig genervt durch die für sie überflüssige Diskussion, hat das Gefühl, die Situation gut bestimmen zu können.
- Kognition Professionelle/r: Möchte den Jugendlichen Struktur geben, indem sie an die Regeln appelliert (auf der Gruppe tragen wir keine Jacken) und den Jugendlichen A. kognitiv abholen, indem er versteht, warum sie so argumentiert.
Zweite Sequenz: Verstoss gegen die Regeln und Auseinandersetzung
Dabei bemerkt die SA, dass A. ein Oberarmband aus Karton gebastelt, (als Zeichen des Captain beim Fussballturnier) mit einem Hakenkreuz versehen über dem Pullover trägt. Aufgebracht fragt sie den Jugendlichen, was diese Bastelei soll und dass er wisse, was dieses Symbol bedeute. Der Jugendliche verteidigt sich und beharrt auf den Ursprung des Symbols in der indischen Kultur. Er meint, das mache doch nichts und gefalle ihm einfach.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Fühlt sich ungerecht behandelt und reagiert demnach aggressiv. Hat das Gefühl, dass ihm die Argumente ausgehen und er sich noch irgendwie verteidigen muss.
- Emotion Professionelle/r: Sie ist wütend aufgrund der Dreistigkeit, dieses Symbol erneut zu verwenden, obwohl es schon vor wenigen Tagen besprochen wurde. Fühlt sich provoziert und unsicher, wie sie auf ein solch heikles Thema reagieren sollte.
- Kognition Professionelle/r: Möchte eine Rechtfertigung vom Jugendlichen erhalten und herausfinden was hinter diesem Oberarmband steckt. Irritiert, weil sie denkt, das Thema sei von professioneller Seite genug behandelt worden.
Dritte Sequenz: Forderung und Verweigerung
Die SA beendet das kurze Wortgefecht indem sie den Jugendlichen auffordert, das Armband sofort auszuziehen und in den Mülleimer zu werfen. Sie sagt, sie wolle nicht mehr weiter diskutieren. Der Gegenstand mit dem Hakenkreuz solle aber sofort aus ihrem Blickfeld verschwinden. Der Jugendliche gibt sich wenig beeindruckt und verweigert.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Der Jugendliche fühlt sich noch mehr provoziert, gedemütigt und in die Ecke gedrängt. Er weiss nicht wie reagieren.
- Emotion Professionelle/r: Die SA empfindet noch mehr Wut über die Uneinsichtigkeit und Verweigerung des Klienten. Sie fühlt sich hilflos und ein wenig überfordert.
- Kognition Professionelle/r: Die SA hat den Eindruck, dass die Diskussion mit dem Klienten zu nichts führt. Gleichzeitig ist sie auch den anderen Jugendlichen, die ihr Mittagessen einnehmen müssen, verpflichtet, Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr wird bewusst, dass wenn sie sich durchsetzen möchte, sie eine strengere Haltung einnehmen muss.
Vierte Sequenz: Sanktion und Subordination
Da der Jugendliche im ganzen Prozess wenig Kooperation gezeigt hat beschliesst die SA, eine härtere Sanktion durchzuziehen. Sie fordert ihn auf sofort ins Zimmer zu gehen. Er könne später wieder nach oben kommen, noch etwas essen und einen anderen Jugendlichen als Konsequenz beim Küchenämtli unterstützen. Denn wenn er ihr so frech begegne, wolle sie ihn nicht mehr am Tisch haben. Der Jugendliche murrt vor sich hin und schimpft. Da steht die SA auf und wiederholt ihre Forderung. Nun steht der Jugendliche auf und verschwindet langsam und wütend in seinem Zimmer.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Realisiert dass er kapitulieren muss. Fühlt sich gedemütigt und ist böse auf die SA und die ganze Situation
- Emotion Professionelle/r: Zufrieden, dass auf ihre Aktion schliesslich die gewünschte Reaktion eingetroffen ist. Empfindet wieder mehr Sicherheit in Bezug auf die Situation und ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den anderen Jugendlichen.
- Kognition Professionelle/r: Mit wenig Druck zu arbeiten hat nicht funktioniert, also muss sich die SA andere Strategien überlegen. Sie versucht, direkt und klar zu kommunizieren. Um mehr Autorität auszustrahlen, steht sie auf und nimmt so räumlich eine höhere Position und dadurch mehr Macht ein.
Weitere Sequenzen
Fünfte Sequenz: Auflösen des Konfliktes
Als die anderen Jugendlichen mit dem Essen fertig sind und aus dem Essraum verschwinden, holt die SA den Jugendlichen aus dem Zimmer. Er isst nun alleine sein Mittagessen und muss später das Ämtli für einen anderen beenden. Dabei unterstützt ihn die Professionelle und findet so auch Gelegenheit, mit ihm dieses Thema nochmals anzuschauen und ihm klar zu machen, warum sie so massiv reagiert hat. Sie erinnert ihn an die Regeln der Institution, welche nationalsozialistische Symbole verbieten und macht ihn kurz über die rechtlichen Konsequenzen kund.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Er ist unzufrieden damit, dass es bestraft wurde und alleine essen musste. Gleichzeitig konnte er von der Distanz zur Gruppe und ist froh noch einmal in Kontakt mit der SA gehen zu können und den Konflikt zu klären.
- Emotion Professionelle/r: Die SA hat durch den Konflikt mehr Sicherheit gewonnen. Durch den zeitlichen Abstand konnte sie ihre Gefühle abklingen lassen und fühlt sich nun bereit, mit dem Jugendlichen das Thema noch einmal so sachlich als möglich zu besprechen.
- Kognition Professionelle/r: Die SA hoffte, dem Jugendlichen würde eine Reizabschirmung guttun. Nun möchte sie ihm die Möglichkeit geben, den Konflikt mit ihr zu besprechen und zu beenden. Die Beziehungsebene soll wieder geklärt werden, sodass kein Bruch entsteht. Ein Austausch kann sie, verbunden mit der Aktivität des Küchenämtlis, besser verbinden als ein konfrontatives Gespräch, welches zum jetzigen Zeitpunkt kaum fruchten würde. Sie versucht ihm das Thema „Hakenkreuz“ auf fachlicher Ebene näher zu bringen, weil sie gemerkt hat, dass sie ihn auf der Gefühlsebene damit kaum erreichen kann.
5.1 Erklärungswissen – Warum handeln die Personen in der Situation so?
Was könnten Ursachen für das verweigernde Verhalten des Klienten A und seine Faszination für den Nationalsozialismus sein? Der Jugendliche erlebt zuhause in seiner primären Sozialisationsinstanz Familie zwei sehr ambivalente Erziehungsstile. Die Mutter ist der ruhende Pol, sie umsorgt und behütet ihren Sohn, was als Versuch, das Verhalten des Vaters kompensieren zu wollen, interpretiert werden könnte. Wo sie einen überbehütenden Erziehungsstil zeigt, ist der Vater ein autoritärer Typ, der sich über die Bedürfnisse seiner Kinder hinwegzusetzen scheint. Sein Verhalten ist grob und zeigt wenig Empathie, er bedient sich auch in der Kommunikation einer gewalttätigen Aussprache. Als Erziehungsmittel hat er bei seinem Sohn schon mehrmals körperliche Gewalt angewendet. Die SA könnte sich vorstellen, dass ihr Klient A. als Sohn hin- und hergerissen ist zwischen den zwei grundverschiedenen Verhaltensweisen seiner nächsten Bezugspersonen. Für welchen Pol soll er sich nun entscheiden, wenn er sich in schwierigen Situationen befindet? Soll er für seine Bedürfnisse auf liebevolle und anlehnende oder auf gewaltvolle und aggressive Weise einstehen? So wechselt er ständig zwischen diesen zwei Abgründen, in Konflikten sind meistens beide Anteile prozessual sichtbar. A. adaptiert gewalttätiges Verhalten wenn er sich in Stresssituationen oder unter Druck fühlt. Empfindet er mehr Sicherheit und Ruhe (z.B. Schlechtes Gewissen nach Konflikt) kann und muss er seine zarte und sensible Seite zeigen (vgl. Hurrelmann 2002:156 ff).
Psychoanalytisch begründet liegt die Vermutung nahe, dass A. Schwierigkeiten hat zwischen den einerseits subjektiv empfundenen Erwartungen der Umwelt, andererseits persönlich empfundenen Gefühlsregungen zu vermitteln. Das „ICH“, welches zwischen Individuum (Triebe und Instinkte) und Umwelt (Normvorstellungen und gesellschaftliche Erwartungen) eine verbindende Rolle inne hat, könnte somit zu schwach ausgebildet sein. Weil A. diese inneren Widersprüche nicht ausreichend überwinden kann, greift er zu (gewalthaltigen) Handlungsstrategien, welche nicht mehr altersadäquat sind. Er hat des Weiteren Schwierigkeiten, die Bedeutung seines Handelns abzuschätzen und zu reflektieren (vgl. Scheu 2009:36 ff).
Kombiniert man diese beiden Theorien wird ersichtlich, dass sich A. in einem Spannungsfeld befindet. Der Vater verkörpert somit das „ÜBER-ICH“, indem er auf dominante Weise auf gesellschaftliche Normvorstellungen pocht (der Junge muss eine Lehre machen, eine Anlehre ist nichts für ihn) und ihn damit unter Druck setzt. Die Mutter steht für die andere Seite. Das „ES“, welches die ureigenen Triebe wie Hunger und Schlaf und instinktive Handlungen in sich hat wird von ihr gehegt und in einem Masse unterstützt, welches nicht mehr sinnvoll für den Klienten ist.
Ausserdem sollte die Tatsache berücksichtigt werden, dass sich der Jugendliche im Alter von 14 Jahren in der Adoleszenz befindet. Erikson beschreibt verschiedene Entwicklungsstufen, welche unterschiedliche Aufgaben für das Individuum bergen. Dabei wird die Phase der Jugend (Identitätskonstruktion und Diffusion) als herausfordernd und krisenhaft beschrieben weil die junge Frau/ der junge Mann ihre Wertvorstellungen neu finden, verschiedene Rollen ausprobieren, sich mit einer beruflichen Zukunft auseinandersetzen und sich neu erfinden muss (vgl. Skript BA03 -> Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erik H. Erikson 06.03.2012). Deshalb ist unangepasstes und provokatives Verhalten gegenüber Erwachsenen, welche gefestigte Normen vertreten, in einem gewissen Masse auch gesund und wichtig. Hierbei argumentiert Guggenbühl auch mit dem Aspekt des sozialen Raumes. Da Jugendliche gesellschaftliche Codes noch nicht vollständig internalisiert haben, nehmen sie den öffentlichen oder halböffentlichen Raum anders wahr und leben sich darin aus, als wären sie in ihrem Zimmer. Das Esszimmer im beschriebenen Situationsbeispiel ist eine Mischung aus Zuhause (privates eigenes Zimmer) und halböffentlichem Raum (gemeinsam für alle Mitbewohner/innen nutzbar, allgemein herrschende Regeln). Das bedingt eine sensible Wahrnehmung von Seiten des Jugendlichen, wie er sich dort verhalten darf und welche Handlungen nicht respektvoll den anderen gegenüber ist. Weil das Esszimmer ein sozialer Raum ist, verlangt die Sozialpädagogin auch vom Jugendlichen A., dass er seine Jacke auszieht (vgl. Guggenbühl 2011: 41 ff).
5.2 Interventionswissen – Wie kann ich als professionelle Fachperson handeln?
Wie wirkt sich das Durchziehen einer Regel auf den Jugendlichen aus? Einerseits tritt die Professionelle auch autoritär auf. Dies sollte dem Jugendlichen Grenzen aufzeigen und Sicherheit vermitteln. Gleichzeitig versucht sie zu vermitteln, dass sich Liebe und Strenge nicht widersprechen müssen sondern verschiedene Anteile einer Person sein können. In Bezug auf Gewalt wird sie auf zu viele Isolierungen verzichten, da diese auch gewalttätig wirken und dem Jugendlichen das Gefühl vermitteln könnten, dass man ihn auf der Gruppe nicht möchte und er nur eine bestimmte Seite von sich als akzeptiertes Verhalten ausleben kann. Es ist dabei wichtig, in der Sprache Klarheit und Sicherheit zu vermitteln und eine Kommunikation vorzuleben, die das gegenseitige Verständnis fördert. Damit die Bedeutung seines Handelns für den Klienten transparenter wird, sollten Gefühle und Reaktionen verbalisiert werden. Da kann man ruhig mal sagen: „ Es verletzt mich, wenn du so mit mir sprichst.“
5.3 Erfahrungswissen – Woran erinnere ich mich, was kenne ich aus ähnlichen Situationen?
Warum wird genau diese Sanktion von der Professionellen ergriffen? Der Jugendliche versucht offensichtlich, wenn auch auf negative Art, Aufmerksamkeit zu erhalten und in Beziehung zu den Erwachsenen zu treten. Einerseits versucht die Professionelle dabei, auf sein aggressives Verhalten ruhig zu bleiben und auf keine Provokation einzusteigen. So gibt sie ihm Sicherheit und bildet einen Ausgleich. Dann lässt sie ihm keinen Spielraum für Entscheidungsschwierigkeiten, weil sie ihm befiehlt, das Armband mit dem Hitlerkreuz fortzuwerfen.
Da die SA aus ihren Erfahrungen im Umgang mit dem Jugendlichen A. weiss, dass er durch extrinsische Forderungen in Konfliktsituationen schnell provokativ und aggressiv werden kann, möchte sie ihn im Moment der Wut und der Hilflosigkeit nicht noch mehr herausfordern sondern die Situation so bald als möglich verändern.
Die Erfahrung zeigt auch, dass es schwierig ist, Konfliktsituationen am Tisch in Anwesenheit der Gruppe zu erarbeiten. Klient A. buhlt um die Rolle des Alpha-Tiers und die Schwierigleiten der Gruppendynamik würden sich demnach verstärken (was denken die anderen von mir? Hey, ich werde vor den anderen gedemütigt, nun muss ich zurückgeben…) Deshalb wird dieser Jugendliche in solchen Momenten schneller von der Gruppe getrennt.
Das Alleinsein ermöglicht ihm, sein Zimmer als schützender Rückzugsort wahrzunehmen, zu reflektieren und sich auch schwach fühlen zu dürfen.
Trotzdem ist es wichtig, den Konflikt sobald als möglich nochmals mit dem Jugendlichen anzuschauen und ihm somit ein Beziehungsangebot zu machen. Die von Honneth begründeten drei Ebenen der Anerkennung zeigen, wie wichtig diese für eine Identitätskonstruktion sind. Emotionale Zuwendung auf der Beziehungsebene ist unabdingbar. Bei einem Verkennen wirkt dies wie Diskriminierung oder Stigmatisierung und stellt eine Verletzung der psychischen Integrität dar. Der Jugendliche, welcher selbst schon oft verletzt wurde und sein Gewaltpotential internalisiert auch weiter gibt, sollte eine solche Verletzung seiner Anerkennung (und somit Demütigung) nicht auch noch von Seiten der Professionellen erleben müssen (vgl. Honneth 1992, zit. nach Riegel 2004:140).
5.4 Organisations- und Kontextwissen – Welche Rahmenbedingungen beeinflussen mein Handeln?
Wieso dieser rabiate Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus? Die im Leitbild des Schulheims verankerten Grundregeln zeigen Eckpfeiler eines respektvollen Umgangs aller beteiligten Personen auf. Darin wird auch erwähnt, dass es verboten ist, rassistische oder gewaltsame Symbole zu tragen und verbreiten. Der Auftrag, die Jugendlichen in ihrer sozialen Weiterentwicklung zu unterstützen zieht sich durch die gesamten alltäglichen Begebenheiten und Situationen. Die Institution beruft sich dabei auf die sieben Dimensionen des Menschseins, welche gefördert und gestärkt werden sollen damit sich Kinder und Jugendliche wieder in die Gesellschaft integrieren können. Zurück zum Hakenkreuz beinhaltet dies auch das Bewusstmachen der gesellschaftlichen Werte und Normen.
5.5 Fähigkeiten – Was muss ich als professionelle Fachperson können?
Die Arbeit in dieser Organisation erfordert einen gewissen Grundstock an theoretischem Wissen. Der lebensweltorientierte Ansatz nach Thiersch unterstützt das sozialpädagogische Handeln als Grundideologie. Des Weiteren sind in dieser Situation zahlreiche Sozialkompetenzen der SA gefragt: Feingefühl, die Situation zu erfassen, Konfliktfähigkeit, um konsequent und durchhaltend zu reagieren, Fähigkeit zu angebrachten Kommunikationsmitteln greifen zu können (klarer Ausdruck und Botschaft, Bestimmtheit, Autorität ausstrahlen, ernst nehmen) und Fähigkeiten der Kooperation die sich darin zeigt, dass die Professionelle die Beziehung auch wieder aufnehmen und die Konfliktsituation mit dem Klienten reflektieren und verarbeiten kann.
5.6 Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen – Womit kann ich handeln?
Einerseits sind zeitliche Rahmenbedingungen vorhanden: Das Mittagessen muss eingenommen werden, damit die Tagesstruktur gewährleistet und die Jugendlichen nachmittags den Schulunterricht wieder besuchen können. Um nicht zuviel Zeit zu verlieren, wird auch noch alleine mit dem Jugendlichen gearbeitet. Die Organisation arbeitet aus Überzeugung nicht mit Sanktionen wie Essentzug, deshalb darf der Jugendliche, um sein leibliches Wohl zu schützen, später noch fertig essen. Ebenfalls wird auf eine längere Isolation des Individuums verzichtet. Aufs Zimmer zu gehen kann als Strafe höchstens für eine halbe Stunde angeordnet werden.
Allgemein muss berücksichtigt werden, dass die SA gemeinsam mit einer anderen professionellen Person für neun Jugendliche verantwortlich ist. Sie kann sich durch die Auseinandersetzung mit einer Person nicht lange absorbieren lassen.
5.7 Wertewissen – Woraufhin richte ich mein Handeln aus? Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die ich als handelnde Fachperson berücksichtigen will?
Berufsethik: Die Professionellen arbeiten mit Sanktionen, welche unterstützend, lehrreich und nachvollziehbar für die Jugendlichen sind. Sofern möglich wird versucht, koproduktiv und partizipativ Prozesse zu einer grösseren Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit zu fördern.
Menschenbild: Die Professionellen glauben an das humanistische Menschenbild, welches das Individuum als grundsätzlich gutes, sich veränderbares und wertvolles Individuum ansieht. So werden alle Menschen gleich behandelt, ihre Andersartigkeit und Individualität wird angenommen und wertgeschätzt mit dem Fokus auf die Stärken jedes Einzelnen. Schwächere Mitglieder werden dadurch geschützt und in ihrer Entwicklung unterstützt. Im Alltag wird angestrebt als heterogene Gemeinschaft zu leben und Ausgrenzung zu vermeiden.
Leitbild der Organisation: Im Leitbild sind Grundregeln des respektvollen Umgangs untereinander verankert. Dabei sind alle beteiligten Personen, ob Kinder, Jugendliche, SozialpädagogInnen oder der Lehrkörper, involviert. Aus dem Leitbild wird der lebensweltorientierte Ansatz nach Thiersch als grundsätzliche Theorie mit dem Ziel der individuellen Lebensbewältigung durch Unterstützungsaufgaben verwendet (vgl. Thiersch,1992:23 ff). Ausserdem arbeiten alle Professionellen mit dem Modell der Kooperativen Prozessgestaltung (Freud, Stotz, 2011: Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit).
- Die Essenssituation wird als gemeinschaftlicher, sozialer Anlass bewusst gestaltet. Die PSA gewährleisten, dass sich alle Personen ihren Bedürfnissen gemäss einbringen und an der Essenssituation beteiligen können.
- Die PSA ermöglichen Partizipation und fördern die Integration Einzelner in die Gruppe – sie bieten angemessene Hilfestellungen an und ermutigen zu positiven Erfahrungen
- PSA handeln situativ. Ihre Interventionen und Handlungen orientieren sich sowohl an den Ressourcen von Klient*innen wie auch an den Vorgaben bzw. Ansprüchen, welche sich aus dem organisationalen Auftrag und aus dem Anspruch der Profession Soziale Arbeit ergeben (Triple Mandat).
- Auf der Teamebene werden Erfahrungen und Wissen in Bezug auf herausfordernde Essenssituationen mit Klient*innen ausgetauscht. Eine gemeinsame Haltung wird entwickelt und daraus das weitere Vorgehen mit den Klient*innen besprochen und umgesetzt
- Die Motive hinter Aggressionen und Konflikten in Essenssituationen sowie konstruktive Konflitkbewältigungsstrategien werden von den PSA mit den Klient*innen thematisiert
Momentan sind für die SA wenige alternative Handlungsstrategien ersichtlich. Sie hätte über das Thema Hakenkreuz gar nicht diskutieren können und direkt, im Sinne eines „no-go“s intervenieren können. Andererseits wäre es auch möglich gewesen, noch mehr auf die empathische Ebene einzugehen und der Frage nachzuspüren, was der Jugendliche A. mit diesem Symbol bezwecken wollte. Als Sanktion wäre es vielleicht auch sinnvoll, das Thema 2. Weltkrieg nochmals aufzugreifen im Sinne eines Lernprozesses (aus einem Buch abschreiben, recherchieren was es mit dem Hakenkreuz auf sich hat). Dies hätte jedoch die Faszination des Jugendlichen zugleich auch wieder verstärken können. Im Sinne der positiven oder hierbei negativen Verstärkung (Konditionierung nach Pawlow ->Skript BA03, Behavoristische Lerntheorie, 13.03.2012) sollte die Bestrafung auf jeden Fall stärker sein als der Reiz des Verbotenen. In diesem Beispiel könnte das aufs Zimmer schicken auch attraktiver für den Jugendlichen sein, der dann seine Ruhe hat. Beim beschriebenen Jugendlichen beurteilte die SA ihre Sanktion jedoch als adäquat, weil er ihres Erachtens Mühe damit hat, wenn er von der Gruppe getrennt werden muss.
- Hurrelmann, Klaus (2002). Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim & Basel: Beltz Verlag.
- Autrata, Otger & Scheu, Bringfriede (2009). Jugendgewalt. Interdisziplinäre Sichtweisen. Wiesbaden: VS Research.
- Thiersch, Hans (1992). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim & Basel: Beltz Verlag.
- Hochuli Freund, Ursula & Stotz, Walter (2011). Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit. Ein methodenintegratives Lehrbuch. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
- Riegel, Christine (2004). Im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung. Orientierungen und Handlungsformen von jungen Migrantinnen, eine soziobiografische Untersuchung. Frankfurt am Main: IKO- Verlag für Interkulturelle Kommunikation.
- Guggenbühl, Allan (2011). Was ist mit unseren Jungs los? Hintergründe und Auswege bei Jugendgewalt. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder
- Skript BA 03 (Sozialisation, Entwicklung und Bildung), FS12, 13.03.2012: Behavioristische Lerntheorie.
- Skript BA 03 (Sozialisation, Entwicklung und Bildung), FS12, 06.03.2012: Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erik H. Erikson